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Geschichte der ADHS

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Der britische Kinderarzt George Frederick Still (1868-1941)

Dieser Artikel behandelt die Geschichte der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Allgemeine Informationen über die Störung finden Sie unter Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung.

Hyperaktivität wurde bereits vor Jahrhunderten beim Menschen beobachtet. Sir Alexander Crichton berichtet 1798 in seinem Buch mental restlessness von seinen Beobachtungen hyperaktiver Menschen.[1] Im Laufe der letzten Jahrhunderte finden sich unterschiedliche Begriffe für die ADHS-typischen Verhaltensauffälligkeiten wieder, mit der man die Störung zu definieren versuchte, darunter "Hyperaktivität", "minimale zerebrale Dysfunktion", "minimaler Gehirnschaden" (MCD) oder "Lernbehinderung" (siehe auch: Nomenklatur). Im Jahr 1987 wurde die damals noch als Syndrom bezeichnete ADHS im DSM-III-R und nachfolgenden Versionen schließlich als "ADHS" (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) definiert.

18. Jahrhundert

Als erstes Werk, in dem die klassischen Symptome der ADHS Erwähnung finden, gilt ein vom deutschen Arzt und Wissenschaftler Melchior Adam Weikard im Jahr 1775 verfasstes Buch, in dem er Aufmerksamkeitsstörungen einen ganzen Artikel widmete (Mangel der Aufmerksamkeit, Attentio Volubilis).[2] Laut Barkley und Peters veröffentlichte Weikard mehrere Werke, die sich mit Philosophie und Psychologie auseinandersetzten. Die erste Ausgabe des Werks "Der Philosophische Arzt", in dem sich auch das "ADHS-Kapitel" wiederfindet, wurde erstmals im Jahr 1775 veröffentlicht. Andere Quellen geben wiederrum die Erstveröffentlichung mit dem Jahr 1770 an. Weikard ließ die ersten beiden Ausgaben ursprünglich anonym veröffentlichen. Die Gründe hierfür sind nicht eindeutig geklärt. Barkley und Peters nehmen an, dass Weikard sich vor Schmähkritik gefürchtet haben könnte, da seine Werke auf Widerstand und Kritik stießen.

Die Symptome, die Weikard in seinem Buch beschreibt, decken sich weitestgehend mit den heute in den beiden Diagnosesystemen festgehaltenen Verhaltensauffälligkeiten. Weikard beschrieb die "unaufmerksame Person" als oberflächlich wahrnehmend und ungeduldig, und wenig sorgfältig. Es mangele ihr an der Fähigkeit, aufmerksam zuzuhören. Meist könne sie sich nur an die Hälfte des Gehörten erinnern. Im Allgemeinen bestehe ihr Wissen aus "ein wenig von allem, aber nichts vom Ganzen". Typisch für den von Weikards beschriebenen unaufmerksamen Menschen sei im Weiteren eine ausgeprägte Motivation, Dinge anzugehen, dies aber nur mit mangelhaftem Durchhaltevermögen.[3]

Weikards Vorschläge, die oben beschriebenen Zustände zu heilen, werden in der heutigen Zeit großteils nicht mehr ernstgenommen. So empfahl er, den Betroffenen bei übermäßiger Aktivität allein im Dunklen einzusperren und ihn ein kaltes Bad nehmen zu lassen. Weiter riet er zur Verabreichung von Mineralwasser, sportlicher Aktivität, wie Pferdereiten und gymnastischen Übungen.[4]

Der schottische Arzt und Autor Sir Alexander Crichton beschrieb im Jahr 1798 einen Zustand, der der heutigen ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, bzw. ADHS des vorwiegend unaufmerksamen Subtyps) qualitativ sehr nahekommt. Crichton genoss Teile seiner Ausbildung in Deutschland. Es wird angenommen, dass Crichton mit Weikard in Kontakt stand und mit ihm auch fachlich korrespondierte. In seinem Werk An inquiry into the nature and origin of mental derangement: comprehending a concise system of the physiology and pathology of the human mind and history of the passions and their effects geht Crichton genauer als einst Weikard auf die Problematik der Unaufmerksamkeit ein. Crichard vermutete, dass die von Weikard beschriebene Unaufmerksamkeit von einer Übersensibilität der Nerven im Gehirn herrührte. Diese könne ätiologisch eine angeborene Konstitution sein, oder durch spätere nervliche Schädigungen hervorgerufen werden. Er vermutete jedoch, dass die Symptome mit zunehmendem Alter verschwinden.[5]

Crichton beobachtete weiter: "Bei dieser Gedächtniskrankheit, wenn sich dies so nennen lässt, scheint den Betroffenen jeder Sinneseindruck aufzuwühlen und in einen unnatürlich unruhigen Zustand zu versetzen. Menschen, die im Raum auf und ab laufen, kleinste Geräusche, ein Tisch, der verrückt wird, das Zuschlagen einer Tür, zu viel Licht (oder zu wenig) - all das macht die Daueraufmerksamkeit bei den Betroffenen zunichte, da sie durch alles und jeden sofort ablenkbar sind" (S.272).

Sowohl Weikard als auch Crichton beschrieben vor über 200 Jahren, was heute als Aumerksamkeitsdefizitstörung ohne Hyperaktivität bezeichnet wird.

19. Jahrhundert

William James (1842-1910)

Der amerikanische Psychologe William James (1842-1910) veröffentliche im Jahr 1890 das Werk "The Principles of Psychology". In diesem sprach er von Menschen, die im Besonderen Schwierigkeiten bei der Impulskontrolle haben. James beobachtete bei den Betroffenen, dass sie zu wenig über ihre Handlungen und nachfolgende Konsequenzen nachdachten und grundsätzlich Schwierigkeiten bei der Selbstreflexion zu haben schienen. James war jedoch nicht nur der Ansicht, dass das beschriebene Verhalten ausschließlich negative Folgen für die Betroffenen hatte: Er war überzeugt, dass viele Revolutionäre und bekannte Persönlichkeiten der Geschichte diesem Persönlichkeitstypus angehörten und erachtete die Impulsivität der Betroffenen als Schlagfertigkeit und Fähigkeit zum schnellen Reagieren.

20. Jahrhundert

Der englische Kinderarzt George Frederick Still (1868-1941) sprach im Jahr 1902 im Rahmen einer Vorlesung in London über "Nicht normale psychische Bedingungen bei Kindern". Diese Vorlesungen wurden etwas später im Lancet publiziert. In seiner Vorlesung beschrieb Still Kinder, die Probleme mit der Daueraufmerksamkeit, und außerdem Schwierigkeiten mit der Selbstregulation hatten, während ihre Intelligenz normal ausgeprägt war. Still beschrieb außerdem das Verhalten von Kindern, die erhebliche Schulprobleme und Schwierigkeiten beim Rechnen haben. Außerdem seien sie extrem erregbar und empfänglich für kleinste Provokationen, auch gegenüber Fremden.

Hier zeichnet sich der Zusammenhang der heute festgehaltenen Kriterien des ADHS ab und es wird deutlich, dass die ADHS-Symptomatik keine (Mode-)Erscheinung des 21. Jahrhunderts ist.

Auch wenn Still nicht die Begriffe ADHS oder ADS benutzte, um seine Beobachtungen zu beschreiben, so sind sich Wissenschaftler heute einig, dass die von Still beschriebenen Symptome weitgehend deckungsgleich mit den heute festgehaltenen Diagnosekriterien sind.

1937 beschrieb Charles Bradley die spontane Wirksamkeit von Medikamenten (Benzedrin) bei 30 von ihm behandelten verhaltensauffälligen Kindern. Die Medikation schien das störende Verhalten der Kinder zu reduzieren und die Schulleistungen der stationär behandelten Kinder mit Verhaltensstörungen zu verbessern.[6] Kinder und Jugendliche, die durch einschlägige Verhaltensauffälligkeiten in das Schema passten, wurden erstmalig mit der hyperkinetischen Impulsstörung diagnostiziert.

1978 wird in der ICD-9 das hyperkinetische Syndrom des Kindesalters erstmals als eigenständiges Krankheitsbild benannt.

1980 wurde in der ersten Fassung des DSM das Persistieren von Symptomen bis ins Erwachsenenalter als „ADD Residual Type“ erfasst.

1992 kann im ICD-10 die Diagnose hyperkinetisches Syndrom auch im Erwachsenenalter gestellt werden. Dort heißt es: „Die Kriterien sind dieselben, jedoch müssen Aufmerksamkeit und Aktivität anhand entwicklungsmäßig angemessener Normen beurteilt werden.“

1995 bestätigt der Wissenschaftler Paul H. Wender im Rahmen einer von ihm durchgeführten Studie abermals, dass ADHS über die Pubertät hinaus erhalten bleibt und sich nicht, wie bislang angenommen, auswächst.[7]

21. Jahrhundert

Im Jahr 2003 wurde in der Bundesrepublik Deutschland ADHS im Erwachsenenalter offiziell anerkannt. Seit Juni 2011 kann für Erwachsene mit ADHS bei schwerer symptomatischer Ausprägung Methylphenidat (Medikinet Adult) verordnet werden. Bis dato war die Anwendung von Methylphenidat aufgrund der unzureichenden Studienlage auf Kinder ab sechs Jahren und Jugendliche begrenzt.[8]

Sonstiges

Der US-amerikanische Journalist und Autor Thom Hartmann bezeichnet ADHS als eine genetische Normvariante, die ihren Ursprung in der Evolution des Menschen hat (siehe: Hunter-/Farmer-Theorie).

Siehe auch

Film und Fernsehen

Weblinks

Studien und wissenschaftliche Publikationen

Weitere interessante Artikel

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Quellen

  1. An Early Description of ADHD (Inattentive Subtype): Dr Alexander Crichton and `Mental Restlessness' (1798) Child and Adolescent Mental Health, Volume 6, Number 2, May 2001 , pp. 66–73(8)
  2. http://jad.sagepub.com/content/16/8/623 " Barkley, R. A. & Peters, H. (2012). The earliest known reference to ADHD in the medical literature?(...)"
  3. Melchior Adam Weikard, Der Philosophische Arzt, 1775, S.5
  4. Melchior Adam Weikard, Der Philosophische Arzt, 1775, S.5-6
  5. An inquiry into the nature and origin of mental derangement: comprehending a concise system of the physiology and pathology of the human mind and a history of the passions and their effects, S.271
  6. Robert J. Resnick: "Die verborgene Störung - ADHS bei Erwachsenen" S. 16
  7. "Reliabilität und Validität des Wender-Reimherr-Interviews"
  8. http://www.adhdeurope.eu/news/1205-first-medication-for-adult-adhd-available-in-germany-april-2011.html "First medication for adult ADHD available in Germany (April 2011)"