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Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson

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Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson
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Indikation Therapie akuter Erregungszustände
Therapieform symptomatisch
Wirksamkeit Unbelegt als Monotherapie bei ADHS
Wirkung Entspannungsverfahren

Als progressive Muskelrelaxation (auch progressive Muskelentspannung oder kurz PME), entwickelt von dem US-amerikanischen Arzt und Physiologen Edmund Jacobson[1], wird ein Entspannungsverfahren bezeichnet, bei dem durch bewusste An- und Entspannung bestimmter Muskelgruppen des Körpers in einer bestimmten Reihenfolge ein Zustand tiefer Entspannung erreicht werden soll. Ziel des Verfahrens ist eine Senkung des Muskeltonus unter das normale Spannungsniveau. Anwender der Methode sollen mit der Zeit lernen, die muskuläre Entspannung bei Bedarf jederzeit spontan herbeiführen zu können.

Das Verfahren nach Jacobson soll besonders für Menschen geeignet sein, bei denen andere Entspannungsverfahren, wie Autogenes Training oder Yoga, nicht die gewünschten Effekte erzielen konnten.[2] Hilfreich soll es vor allem für unter verstärkter Unruhe oder Erregung (Herzklopfen, Schwitzen, Zittern) leidende Personen sein. Es handelt sich jedoch nicht um eine krankengymnastische oder physiotherapeutische Maßnahme, sondern um ein Verfahren zur Verbesserung der Körperwahrnehmung.

Das breite Wirkungsspektrum des Verfahrens ist wissenschaftlich belegt.[3]

Bedeutung des progressiven Verfahrens

Das Wort "progressiv" bedeutet in Zusammenhang mit dem von Jacobson entwickelten Verfahren, dass Muskelgruppen, die vom Individuum zwar als entspannt empfunden werden, sich aber dennoch in einem (chronischen) Anspannungszustand befinden, fortschreitend und dauerhaft entspannt werden sollen. Dazu ist es notwendig, dass die Übungen regelmäßig, optimaler Weise täglich, durchgeführt werden, sodass sie auch in Alltags- oder Stresssituationen spontan angewendet werden können.

Vorteile des Verfahrens

Vor allem gegenüber dem Autogenen Training weist die PME nach Jacobson deutliche Vorteile auf. So können die Übungen bereits nach einer angeleiteten Sitzung alleine, mit Hilfe von bspw. CDs oder MP3s ausgeführt werden. Der Teilnehmer benötigt zudem kein ausgeprägtes Vorstellungsvermögen oder Fantasie. Unruhigen und aktiven Menschen fällt es oftmals leichter, sich auf die PME einzulassen. Darüber hinaus ist bei der PME schneller mit Erfolgen zu rechnen, als beim Autogenen Training.[4]

Anwendungsbeispiel

Die Anspannung der jeweiligen Muskeln sollte je für eine bestimmte Zeit gehalten werden

Für die nachfolgende Anwendung nach Doris Wolf[5] werden etwa 20 - 30 Minuten benötigt. Zudem sollten die Übungen in einem ruhigen Raum bei gedämpften Licht in einer bequemen Sitz- oder Liegeposition durchgeführt werden.

Zu Beginn macht der Teilnehmer einige tiefe Atemzüge, wobei sämtliche Partien des Körpers in einen angenehmen und entspannten Zustand gelangen sollen. Nun wird - in aufsteigender oder absteigender Reihenfolge - jeder einzelne Muskel des Körpers etwa fünf Sekunden lang angespannt, wobei der Muskel nicht so stark angespannt werden sollte, dass eine Verkrampfung entsteht. Anschließend wird die Muskelspannung wieder gelöst, ohne zusätzliche Bewegung. Für etwa zehn Sekunden macht der Teilnehmer sich das Entspannungsgefühl bewusst. Während die jeweiligen Muskeln angespannt werden, sollte versucht werden, alle anderen Muskeln so entspannt wie möglich zu halten.

In der Praxis kann eine solche Übungseinheit wie folgt gestaltet sein:

1. Der Teilnehmer ballt die rechte Faust und zählt langsam von 1 bis 5, worauf er die Spannung loslässt. Das Gefühl der Entspannung soll nun bewusst wahrgenommen und genossen werden.

2. Wiederholung von Punkt 1 mit der linken Faust.

3. Anspannen des Bizepses (Oberarmmuskeln), wobei die Unterarme im rechten Winkel zum Oberarm stehend gebeugt werden. Daraufhin wieder entspannen.

4. Anspannen des Trizepses (Unterarmmuskeln), wobei mit den Handflächen flach auf die Unterlage gedrückt wird. Daraufhin wieder entspannen.

5. Der Teilnehmer runzelt die Stirn, wobei die Augen dabei weit geöffnet und die Augenbrauen hochgezogen werden, sodass Querfalten auf der Stirn entstehen. Daraufhin wieder entspannen.

6. Zusammenziehen der Augenbrauen, sodass eine senkrechte Falte über der Nase entsteht. Anschließend wieder entspannen.

7. Festes Zusammenkneifen der Augen für etwa zehn Sekunden, anschließend wieder entspannen.

8. Aufeinanderpressen der Lippen, ohne dass sich die Zähne berühren. Anschließend wieder entspannen.

9. Der Teilnehmer presst die Zunge gegen den Gaumen. Anschließend wird wieder entspannt, die Zunge locker im Mund ruhenlassen.

10. Zusammenpressen der Zähne (nicht allein die Schneidezähne) mit anschließendem Entspannen.

11. Den Nacken fest gegen die Unterlage oder nach hinten drücken, anschließend wieder entspannen.

12. Das Kinn fest auf die Brust pressen, anschließend wieder entspannen.

13. Hochziehen der Schultern bis zu den Ohren, anschließend wieder fallenlassen und entspannen.

14. Zusammendrücken der Schulterblätter nach hinten zur Wirbelsäule hin, anschließend wieder entspannen.

15. Der Teilnehmer atmet tief ein, dass sich der Brustkorb wölbt. Anschließend wird der Brustkorb so gehalten und es wird flach weitergeatmet. Anschließend wird der Brustkorb wieder fallengelassen und entspannt.

16. Herausdrücken des Bauches, wobei dieser bei gleichmäßiger Atmung so gehalten wird. Daraufhin wird der Bauch eingezogen und wieder entspannt.

17. Befindet sich der Teilnehmer in der Liegeposition, hebt er nun das Gesäß ab und bildet ein Hohlkreuz. Im Sitzen werden lediglich die Gesäßmuskeln angespannt und anschließend wieder entspannt.

18. Anspannen der Oberschenkel, anschließend wieder entspannen.

19. Anspannen der Unterschenkel, indem die Füße nach unten auf die Unterlage gedrückt werden, anschließend wieder entspannen.

20. Anspannen der Unterschenkel, indem die Füße nach oben gezogen werden. Anschließend wieder entspannen.

Anschließend sollte der Teilnehmer noch einige Minuten in einer Ruheposition verbleiben und die Entspannung für sich wahrnehmen. In Gedanken werden noch einmal alle Muskelgruppen durchgegangen. Möglich sind im Anschluss auch, je nach Neigung des Teilnehmers, bestimmte Autosuggestionen, welche die Entspannung weiter fördern können („ich fühle mich wohl und erfrischt, hellwach und ruhig").

Anwendungsgebiete

Die progressive Muskelentspannung kann im Rahmen verschiedener Therapiekonzepte zur Behandlung von sowohl somato-psychischen, als auch psychosomatischen Beschwerden zum Einsatz kommen:

  • in der Verhaltenstherapie, bspw. zu Behandlung von Angststörungen im Sinne einer systematischen Desensibilisierung
  • bei Kopfschmerzen
  • chronischen Rückenschmerzen
  • Schlafstörungen
  • Stottern
  • Flugangst
  • Bruxismus (Zähneknirschen)
  • Magen- und Darmstörungen
  • arterieller Hypertonie (Bluthochdruck)
  • chronischem Tinnitus

Wirksamkeit

Eine Metastudie aus dem Jahr 1994 untersuchte 66 Studien. Diese untersuchten bei insgesamt 3000 Patienten die Wirksamkeit der progressiven Muskelrelaxation als eigenständiges Therapieverfahren. Das heißt, das Verfahren wurde nicht lediglich zur Unterstützung in eine Verhaltenstherapie eingebettet, sondern kam als einziges Therapieverfahren zur Anwendung. Dabei konnten in 75 % der Studien deutliche und stabile Symptomverbesserungen festgestellt werden, in 60 % kam es zu Verbesserungen der allgemeinen Befindlichkeit. Aufgrund der guten Gesamtergebnisse sowie der relativ leichten Erlernbarkeit gilt die PME als das für die klinische Praxis geeignetste Verfahren zur Muskelentspannung.[6]

Für den Einzelfall eignet sich die Methode jedoch nicht unbedingt als monotherapeutisches Verfahren. Insbesondere bei schweren Erkrankungen (Krebserkrankungen, schwere Depressionen, stark ausgeprägte ADHS-Symptomatik) sollte es vielmehr als unterstützendes Element eines Therapiekonzepts zum Einsatz kommen.

Wirksamkeit bei ADHS

Aktuell (2015) liegen keine dedizierten Studien über die Wirksamkeit der als Monotherapie eingesetzten progressiven Muskelrelaxation nach Jacobson auf die ADHS-Symptomatik vor. Zur Unterstützung oder zur Integration in ein multimodales Behandlungskonzept kann sich das Verfahren jedoch eignen, da zumindest für isolierte Bereiche der ADHS-Symptomatik (Hyperarousal, motorische Unruhe) sowie diverse Komorbiditäten Belege über eine Wirkung existieren. Darüber hinaus geht mit den Übungen kein Verletzungs- bzw. ein geringes Verschlechterungsrisiko einher (Ausnahmen s.u.).

Wirkung

  • Affektiv: Ruhetönung, Distanzierung
  • Kognitiv-perzeptiv: assoziativ gelockerter
  • Denkablauf: verminderte exterozeptive Wahrnehmungsverarbeitung
  • Physiologisch: verminderter Muskeltonus, erhöhte periphere Durchblutung, verminderte Atemfrequenz und -tiefe, vermehrte Thetaaktivität (im EEG)

Kontraindikationen und Nebenwirkungen

Die PME nach Jacobson ist bei psychotischen und hypochondrischen Störungen kontraindiziert. Im Falle posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS, PTSD) ist eine kritische Prüfung der Indikation erforderlich, etwa um ein Triggern von Intrusionen zu vermeiden.[7]

Bei korrekter Durchführung ist die PME grundsätzlich sehr nebenwirkungsarm. Liegen jedoch entsprechende Vorerkrankungen vor, kann es allerdings zum Auftreten sogenannter entspannungsinduzierter Angstzustände, Intrusionen oder Flashbacks sowie auch zu Depersonalisationsphänomenen kommen. Bei spezifischen Atemwegserkrankungen, etwa Asthma, kann es während des Trainings ggf. zu einer Verstärkung der Ateminsuffizienz kommen.

Kurse

Zahlreiche Krankenkassen bieten eine (teilweise) Kostenübernahme für die Kurse an.[8]. Auch diverse Volkshochschulen und Psychotherapeuten bieten Kurse zum Erlernen der PME an.

Siehe auch

Weblinks

Literatur

  • Petermann, F.; Vaitl, D. (Hrsg.): Handbuch der Entspannungsverfahren. Bd 2: Anwendungen. Weinheim: Psychologische Verlags Union, 1994;
  • Friedhelm Stetter · Was geschieht, ist gut, Entspannungsverfahren in der Psychotherapie Psychotherapeut, 1998 · 43:209–220 Springer-Verlag 1998
  • Vaitl, D.; Petermann, F. (Hrsg.): Handbuch der Entspannungsverfahren. Bd 1: Grundlagen und Methoden. Weinheim: Psychologische Verlags Union, 1993;
  • Jacobson, E.: Entspannung als Therapie. Progressive Relaxation in Theorie und Praxis. München: Pfeiffer, 1990;
  • Bernstein, D. A.; Borkovec, T. D.: Entspannungstraining. Handbuch der progressiven Muskelentspannung nach Jacobson. München: Pfeiffer, 1975.
  • Douglas A. Bernstein, Thomas D. Borovec, Entspannungs-Training. Handbuch der "progressiven Muskelentspannung" nach Jacobsen , Juni 2002 ISBN: 3608896201
  • Edmund Jacobson, Entspannung als Therapie. Progressive Relaxation in Theorie und Praxis Klett-Cotta/J.G.Cotta`sche Buchhandlung Nachfolger), Oktober 2002

ISBN: 3608896392 (Orientiert an seinem Buch You Must Relax,1934)

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Einzelnachweise

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