Mehr Sicherheit für ADHS-Patienten
Medikamenten-Ausweis nach § 4 Abs. 3 BtMG
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kamen vermehrt Systemtheorien im Bereich der Biologie und Technik auf. Niklas Luhmann nahm den Gedanken auf und entwickelte eine umfassende und begrifflich völlig eigenständige Gesamttheorie für das Soziale, die aber auch entscheidende Impulse dafür lieferte, wie sich Psyche, Körper und soziale Systeme in Bezug aufeinander denken ließen.[1] Parallel dazu entwickelte sich eine Kultur des systemischen Denkens im therapeutischen Bereich, die sich zum Teil auf die gleichen Referenzautoren bezog, aber auch eine eigenständige Rezeptionsgeschichte ausbildete.[2] Die systemische Therapie ist an konkreten Interventionsmöglichkeiten und an einer Beratungspraxis interessiert und hat meist kleinere Interaktionssysteme wie Ehe, Familie, Freundeskreise, Schule, aber auch ganze Organisationen im Blick.
Innerhalb eines systemtheoretischen Paradigmas werden psychische Störungen nicht mehr als objektivierbare Gegebenheiten aufgefasst, sondern als soziale Zuschreibungen, die zum Ausdruck bringen, was von der gesellschaftlichen Norm abweicht und unerwünscht ist – für den Einzelnen, der einen Leidensdruck innerhalb seines Sozialgefüges verspürt oder das gesellschaftliche Umfeld (Familie, Schule etc.), das Schwierigkeiten hat, mit den spezifischen Verhaltensdevianzen umzugehen.[3] Hierbei können neurologische Erkenntnisse Berücksichtigung finden und auch Erwägungen zu einer medikamentösen Behandlung wären im systemisch-psychiatrischen Kontext keineswegs von vornherein auszuschließen,[4] ohne jedoch das Problem reduktiv genau einem System wie z. B. dem Nervensystem, etwa einer Regulationsstörung des Neurotransmitterhaushalts, zuzurechnen.[5] Die Symptomatik einer psychischen Störung ist vielmehr Ausdruck eines als unerwünscht angesehenen Zusammenspiels unterschiedlichster Systeme, die sich jeweils mittels ihrer Erwartungsstrukturen aufeinander abstimmen.[6]
Eine systemtheoretische Sicht auf ADHS verfolgt einen multiperspektivischen Ansatz.[7] Ihr zufolge sind sowohl körpereigene Systeme und das psychische System als auch soziale Systeme und die Psyche strukturell miteinander gekoppelt und stellen ihre Eigenkomplexität jeweils den anderen Systemen zu Verfügung, operieren und erhalten sich aber völlig eigengesetzlich und sind operativ füreinander unzugänglich.[8] Die wesentliche Funktion des Bewusstseins sieht eine allgemeine Systemtheorie in der Disposition von Aufmerksamkeit, über die sich das psychische System mittels einer fortlaufenden Unterscheidungspraxis von Selbst- und Fremdreferenz reproduziert. Diese Operationsweise ermöglicht es dem Bewusstsein, sich selbst von seiner Umwelt zu unterscheiden, so dass sowohl fremdreferenzielle Anschlüsse (Wahrnehmungen) als auch selbstreferenzielle Anschlüsse (Gedanken, Vorstellungen) möglich sind.[9] Was für das psychische System relevant erscheint, obliegt ihm selbst, wobei die Anschlussfähigkeit psychischer Operationen stets gewährleistet sein muss, um das System zu erhalten. Das psychische System muss daher permanent selektieren, da seine Umwelt stets komplexer ist, als es selbst.[10] Es ist zu beobachten, dass ADHS-Betroffene non-konform selektieren. Ihre psychischen Erwartungsstrukturen lassen sich jedoch nur als Effekte beschreiben, die sich aus den jeweiligen Kommunikationen ergeben, an denen der Betroffene beteiligt ist. Den Betroffenen fällt es schwer, die eigenen Erwartungen mit denen ihres sozialen Umfelds abzustimmen und hinreichend komplexe Erwartungsstrukturen auszubilden. Informationstheoretisch könnte dies als ein Indiz dafür gewertet werden, dass im psychischen System übermäßige Eins-zu-eins-Kopplungen von System- und Umweltereignissen vorliegen.[11] ADHS wäre dann der Problemlösungsversuch, die psychische Operationsfähigkeit sicherzustellen, indem überwiegend fremdreferenzielle Anschlüsse durch Selbststimulation beschafft werden.[12] Das psychische System würde sich selbst mit Irritationen versorgen, die seine Operationsfähigkeit am Laufen hält.
Grundsätzlich lassen sich zum einen „theoretische“ Interventionsmöglichkeiten, die sich aus dem Interpretationsrahmen der Systemtheorie selbst ergeben, und „methodische“ Instrumentarien einer systemisch-therapeutischen Begleitung unterscheiden. Eine mögliche Intervention läge darin, für den Betroffenen veränderte soziale Umweltbedingungen zu schaffen, in denen er sich produktiv entfalten kann (neue Erfahrungsmöglichkeiten, anderes Schul- oder Arbeitsumfeld).[13] Dem liegt die Annahme zugrunde, dass sich die psychische Beeinträchtigung für den Betroffenen nur in einer ganz bestimmten sozialen Umwelt überhaupt als problematisch zeigt.[14] Ein funktionalistischer Systembegriff[15] eröffnet zudem die Möglichkeit, psychische Störungen als bewährte Problemlösungsversuche eines psychischen Referenzsystems zu deuten – mit der Absicht, funktional-äquivalente Problemlösungsversuche zu sondieren, die das Problem auf eine neue und erwünschte Weise lösen. Psychische Störungen können infolgedessen als Selbsthilfemechanismus verstanden werden, mit dem Menschen versuchen, ihre Bewusstseinstätigkeit aufrechtzuerhalten.[16]
Gemäß des Selbstverständnisses der systemischen Therapie bevorzugt diese einen ressourcenorientierten statt defizitorientierten Ansatz.[17] Bewährte Methoden, die zum Einsatz kommen, sind zirkuläre Fragetechniken, paradoxe Interventionen, Reframing, Familienaufstellungen etc. mit der Absicht, neue Wirklichkeitskonstruktionen anzuregen, die unerwünschte sich selbst erhaltende Prozesse stören.[18] Es wird davon ausgegangen, dass von außen nicht unmittelbar in Systeme eingegriffen werden kann, da sich Systeme zirkulär selbst regulieren.[19] Die dem Therapeuten zugeschriebenen Kommunikationen sind selbst Teil eines neuen Systems mit dem Klienten und seinen Angehörigen. Die therapeutischen Interventionen werden folglich als eine Form der Störkommunikation betrachtet.[20]