Mehr Sicherheit für ADHS-Patienten
Medikamenten-Ausweis nach § 4 Abs. 3 BtMG
Als Depression (von lateinisch deprimere „niederdrücken“) wird eine psychische Störung bezeichnet, welche sich durch negative Stimmung, den Verlust von Freude, Interessen, Antrieb, Selbstwertgefühl, Leistungsfähigkeit und anderen positiven Empfindungen auszeichnet. Während gesunde Menschen ebenfalls unter depressiver Verstimmtheit leiden können, sind die Symptome bei Depressionserkrankten vergleichsweise schwerwiegend und zudem von anhaltender Dauer.
Depressionen gelten als weit verbreitete Begleitstörung unter ADHS-Betroffenen, haben oftmals weitreichende und schwerwiegende Auswirkungen auf die Lebensqaualität und können das klinische Bild insgesamt enorm beeinflussen. Dies hat zur Bedeutung und zur Konsequenz, dass unter anderem auch die ADHS-Symptomatik in ihrer Ausprägung wechselwirksam von der depressiven Symptomatik beeinflusst wird.[1]
Nicht selten führt die Verdachtsdiagnose der Depression schließlich zur Primärdiagnose ADHS. Reine depressive Störungen werden gegenüber ADHS seltener fehldiagnostiziert, die larvierte ADHS bleibt hingegen häufiger vor allem bei Mädchen und Frauen sowie beim vornehmlich unaufmerksamen klinischen Subtypen unentdeckt.
Verschiedene Studien, in welchen die Prävalenz der depressiven Komorbidiät bei ADHS untersucht wurde, lassen davon ausgehen, dass 9 bis 19 % der ADHS-Betroffenen zusätzlich mit Major Depression diagnostiziert sind.[2] Einzelne Unterschungen, welche eine weitaus höhere Komorbidität angeben (40 % bis 60 %) erwiesen sich zumeist als qualitativ mangelhaft oder fehlerhaft.[3]
Eine im Jahr 2013 in der Fachzeitschrift Nature Genetics veröffentlichte Studie, an der ein Team aus mehr als 300 internationalen Forschern beteiligt war, zeigte „deutliche genetische Korrelationen“ unter anderem zwischen ADHS und Depressionen bzw. bipolaren Störungen auf. Im Rahmen der Untersuchung wurden etwa eine Million Einzel-Nukleotid-Polymorphismen (SNPs) bei mehr als 75.000 Personen miteinander verglichen.[4][5][6][7][8] Für die Bestimmung genauerer genetischer Zusammenhänge sind jedoch weitere Untersuchungen notwendig.[9]
Eine schottische Studie des Jahres 2015, welche auf Familiendaten von knapp 22.000 Personen basiert, gibt für die reine Depression eine Erblichkeit von 28-44 % an, während die gemeinsamen Umwelteinflüsse einer Familie nur einen kleinen Einflussfaktor von 7 % bildeten.[10] Laut diverser Zwillingsstudien stellt die genetische Komponente jedoch nur einen Faktor dar - in weniger als 50 % der Fälle erkrankt der Zwillingspartner (eineiige Zwillinge) des depressiven Zwillings an einer Depression. Neuere Untersuchungen weisen zudem darauf hin, dass auch bei der epigenetischen (nachträglichen) Veränderung der genetischen Information Unterschiede zwischen betroffenen und gesunden Zwillingspartnern festzustellen sind.[11] Somit ist darüber hinaus von einer Gen-Umwelt-Interaktion (GxE) auszugehen.[12]
Vor dem Hintergrund der oben genannten, möglichen genetischen Korrelationen[13] besteht für ADHS-Betroffene bereits durch die biologische Diathese (Anfälligkeit) ein höheres Risiko, depressiv zu erkranken. Weiterhin bilden, auf deskriptiver Ebene, eine deutlich niedrigere Stresstoleranz, eine häufig höhere Sensibilität, eine geringe allgemeine Resilienz und auch (lerngeschichtlich) mangelhaft entwickelte Bewältigungsstrategien eine vergleichsweise hohe Anfälligkeit für die Entwicklung und Aufrechterhaltung von Depressionen.
Des Weiteren können (angesichts des hohen Life-Time-Erkrankungsrisikos bei ADHS) auch „neuronale Vorbahnungen“ eine Rolle spielen: hat im Leben des Betroffenen bereits eigengesetzlich eine depressive Episode (mit Störung der Neurotransmitter) bestanden, so sind gegebenenfalls erneute depressive Episoden gebahnt, wobei unter psychischen Belastungsphasen eine präformierte Neurotransmitter-Entgleisung angestoßen wird.
Diese internalen, bio-psychosozialen Risikofaktoren stehen einer Reihe an exogenen Belastungsfaktoren gegenüber, welchen ADHS-Betroffene typischer Weise zusätzlich ausgesetzt sind. Diese sind beispielhaft für eine sogenannte Genotyp-Umwelt-Interaktion und haben jeweils signifikante Auswirkungen sowohl auf die Depression, als auch auf die Gesamtkonstitution. Dazu zählen beispielsweise:
In Kindheit und Jugend:
Im Erwachsenenalter:
Zu bemerken ist, dass vorgenannte psychosoziale Wirkfaktoren gleichwohl die Gesamtkonstitution beeinflussen. Als meist schwerwiegende Zusatzbelastungen, die oft in einem unmittelbaren Kausalzusammenhang mit der Konstitution stehen, können sie maßgeblich sowohl zur Entstehung, als auch zur Ausweitung und Aufrechterhaltung von ADHS und Begleiterkankungen beitragen, sofern eine Disposition vorliegt.
Insgesamt ist festzuhalten, dass Depressionen das klinische Gesamtbild erheblich beeinflussen können. Gegebenenfalls gibt die Ausbildung einer komorbiden Depression überhaupt erst Anlass zur ADHS-Diagnose, da die reine ADHS-Symptomatik beim Patienten, isoliert betrachtet, bis zur Ausbildung der komorbiden Depression noch keine ausreichende Beeinträchtigung dargestellt hatte. Folgerichtig kann die komorbide Depression zu einer höheren Ausprägung der ADHS führen, beispielsweise zur Entwicklung von einer leichten Ausprägung zu einer mittleren, oder von einer mittleren zu einer schweren Ausprägung. Gleichwohl wirken auch die meist sehr beeinträchtigenden Symptome der Depression sowie die sich aus ihr ergebenden Konsequenzen verstärkend auf die ADHS-Symptomatik. Somit besteht fast immer eine wechselhafte Korrelation zwischen der ADHS-Symptomatik und der komorbiden Depression, welche im Rahmen der Therapie eine entsprechend multimodale Berücksichtigung finden sollte.
Bedeutsam bei der komorbiden Depression ist die Verschiebung des Schweregrades und die Erhöhung des Gesamtleidensdrucks im Vergleich zur an Depressionen leidenden Normalbevölkerung, bzw. im Vergleich zur reinen Depression. Aufgrund des ohnehin bereits dauerhaft erhöhten Stresslevels bei gleichzeitig geringer Stresstoleranz kann bereits eine objektiv leichte depressive Episode das klinische Bild in kurzer Zeit bedeutend beeinflussen und kurzfristig zur Dekompensation führen. Oft genannt ist in diesem Zusammenhang der als ADHS-typisch geltende „Teufelskreis“, der sich aus der ADHS und dem übrigen Komplex aus Begleitstörungen und psychosozialen Schwierigkeiten entwickelt und zu einer raschen Zuspitzung der Gesamtproblematik führt.
Das klinische Gesamtbild der Kombination ADHS und Depression kann sich, exemplarisch, in den konfundierten Leitsymptomen[14] folgendermaßen zeigen (Einzelfälle unterscheiden sich sehr oft im Erscheinungsbild):
Wie auch bei anderen Komorbiditäten ist auch und insbesondere bei Depressionen das Risiko zur Entwicklung weiterer Begleitstörungen deutlich erhöht, je länger diese bestehen. Dabei spielt nicht zuletzt die bei ADHS-Betroffenen zumeist grundsätzlich deutlich verminderte Stresstoleranz eine Rolle. Dabei ist das Risiko zur Entwicklung sowohl somatischer und somatoformer, als auch weiterer psychiatrischer Störungen deutlich erhöht.
Risikofaktoren ergeben sich dabei zusätzlich auf psychosozialer Ebene, da ADHS-Betroffene mit zusätzlicher Depressions-Symptomatik unter Umständen mit gravierenden sozialen Folgen zu rechnen haben, deren Risiko deutlich mit der Zunahme der Komorbidität korreliert. So kann eine anhaltende Depression nach ohnehin mangelhafter Arbeitsleistung und längeren und wiederholten Phasen der Abwesenheit zum Jobverlust führen. Darüber hinaus sind Freunde und Verwandte mit der Problematik oftmals überfordert, weshalb sich die Betroffenen nicht selten aktiv oder passiv ausgrenzen. Diese und vergleichbare Folgen haben gravierende Auswirkungen auf die eigene Selbstwahrnehmung, das Selbstkonzept, Selbstwirksamkeitserwartungen und das Selbstwertgefühl. Wie oben beschrieben ergibt sich aus dem beschriebenen Problemkonglomerat meist eine psychosoziale Abwärtsspirale mit einer für die Betroffenen buchstäblich lähmenden Sogwirkung, bei der sich in kurzer Zeit zahlreiche Schwierigkeiten in fast allen Lebensbereichen akkumulieren.
Depressionen bei Kindern äußern sich oftmals anders als bei Erwachsenen[15], gleichwohl stellt ADHS aber auch bei Kindern und Jugendlichen einen Risikofaktor zur Entwicklung von Depressionen dar, welche die Gesamtkonstitution bedeutend beeinflussen können. Seltener, aber durchaus auch im Kindesalter vorkommend ist darüber hinaus auch Suizidalität, welche den vergleichsweise deutlichsten Hinweis auf eine vorliegende Major Depression im Kindesalter darstellen.
Die Behandlung von Depressionen, welche komorbid zur ADHS auftreten, macht einen zu konzipierenden multimodalen Behandlungsplan erforderlich, da die Depression stark mit der ADHS- und der Gesamtsymptomatik und -Problematik konfundiert ist. Da die depressive Symptomatik sowohl mit der ADHS-Symptomatik (und vice versa), als auch mit den genannten exogenen, psychosozialen Einflussfaktoren korreliert, müssen die verschiedenen Therapiemodi oftmals in einem interdisziplinären Setting umgesetzt werden. Dabei können folgende Therapiebausteine eine Rolle spielen:
Siehe auch Hauptartikel: Psychotherapie
Es bestehen verschiedene Verfahren; für den Komplex ADHS und Depression kommt zumeist ein Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie in Frage. Letztlich haben sich die Unterschiede in der Wirksamkeit verschiedener psychotherapeutischer Verfahren in Untersuchungen als gering herausgestellt, sodass empfohlen wurde, sich hier an den Vorzügen des Patienten zu orientieren.[16] Zum am häufigsten eingesetzten Therapieverahren zählt die kognitive Verhaltenstherapie.
In der kognitiven Verhaltenstherapie werden depressive Störungen als Resultat eines Verlustes an positiven Verstärkern (für Verhalten, auch einschließlich Gefühlen, Gedanken, Motive, Bewertungen) angesehen,[17] wie sie etwa durch die oben exemplarisch genannten, ADHS-typischen Schwierikeiten beschrieben sind. So werden psychische Störungen als ein Resultat an Maladaptionen (erlerntes ungünstiges Verhalten) betrachet, welche im Rahmen der Verhaltenstherapie „umgelernt“ bzw. neu gebahnt werden sollen. Dies geschieht unter der Rückkopplung mit dem Psychotherapeuten, welcher den Klienten mit Berücksichtigung der individuellen Ausgangslage desselben zu einem Aufbau aktiver positiver Verhaltensweisen ermuntert. Gleichzeitig werden mit Bezug zur ADHS-Symptomatik Möglichkeiten für eine bessere Alltagsbewältigung, Organisations- und Planungsstrategien, Umgang mit der Ablenkbarkeit/Optimierung der eigenen Aufmerksamkeitskapazität, Emotionsregulation sowie Umgang mit Vermeidungsverhalten vermittelt.[18]
Zu weiteren (ggf. auch kombinierbaren) evaluierten psychotherapeutischen Verfahren gehören:[19]
Eine medikamentöse Therapieaugmentation ist bei schwerer Ausprägung der Gesamtsymptomatik oftmals notwendig. Von einem schweren Verlauf kann bei einer komorbid zur ADHS vorliegenden Depression in der Regel ausgegangen werden (bezogen auf die Gesamtkonstitution). Nicht selten werden dabei Präparate zur Behandlung der depressiven Störung (Antidepressiva) und solche zur Behandlung der ADHS (zum Beispiel Psychostimulanzien) miteinander kombiniert (insbesondere bei MAO-Hemmern müssen aufgrund gefährlicher Wechselwirkungen besondere Vorsichtsmaßnahmen hinsichtlich der Kombination getroffen werden).
Während die Wirksamkeit von Methylphenidat unter ADHS-Betroffenen mehrheitlich als mindestens mittelhoch gilt (und seinerseits auch Auswirkungen auf die depressive Symptomatik haben kann), ist die Wirksamkeit von Antidepressiva stark abhängig vom Schweregrad der Depression: Bei schwerer Ausprägung ist eine bedeutend höhere Wirkung zu erwarten, als bei mildem und mäßigem Schweregrad.[25] Auch können Antidepressiva von Patient zu Patient in ihrer Wirksamkeit beträchtliche Unterschiede zeigen.[26][27] Daher lassen sich - auch aufgrund der mitunter widersprüchlichen Studienlage - nur schwierig allgemeine Aussagen über die Wirksamkeit treffen.
Ein grundsätzliches und häufiges Problem bei Patienten mit ADHS ist die geringe Compliance (Therapietreue), welche sich durch die komorbide Depression in der Regel noch weiter verschlechtert. Über die Hälfte der Erkrankten nehmen die verordneten Medikamente in der Akutphase nicht regelmäßig ein, nur 25 % gehen in der Nachfolgephase einer regelmäßigen Einnahme nach.[28] Maßgebliche Rollen spielen dabei Neigungen zur Prokrastination, Antriebslosigkeit, mangelnde Planungsfähikgkeiten und Vergesslichkeit, wobei aufklärende Gespräche im Vergleich zu intensiven begleitenden Maßnahmen (zum Beispiel per Telefon) gemäß wissenschaftlicher Untersuchungen fast ohne Effekt sind.[29]
Die am häufigsten verordneten Antidepressiva lassen sich in drei Gruppen einteilen:
Wirkstoffgruppe | Indikationen | Wirkungsweise | Wirkung | Wirkstoffe (Auswahl) |
---|---|---|---|---|
Selektive Wiederaufnahmehemmer (u.a. SSRI, SNRI, DRI) | Depressive Störungen, Zwangs- und Angstzustände, ADHS (z.B. Bupropion) | Erwirken eine (weitgehend selektive) Reuptake-Inhibition des Botenstoffs (Dopamin, Noradrenalin, Serotonin) an der präsynaptischen Membran, es erfolgt eine relative Vermehrung des jeweiligen Botenstoffs bei der Signaltransduktion | Stimmungsaufhellend, angstlösend, Linderung von Zwängen | Citalopram, Bupropion |
Trizyklische Antidepressiva (u.a. SRI, NRI, SNRI) | Depressive Störungen | Reuptake-Inhibition der Neurotransmitter Serotonin, Dopamin und Noradrenalin im ZNS (wenig selektiv), periphere Blockade der Rezeptoren von Serotonin, Noradrenalin und Acetylcholin | Psychomotorisch dämpfend (Amitriptylin-Typ), leichte Antriebssteigerung (Imipramin-Typ), psychomotorisch aktivierend (Desipramin-Typ) | Amitriptylin, Imipramin, Desipramin |
Monoaminoxidase-Hemmer (MAO-Hemmer, MAIO, RIMA) | Atypische und schwere Depressionen, insbesondere nach Versagen anderer Antidepressiva, Angst-, Panik- und Zwangsstörungen, soziale Phobie. | Hemmung von MAO-Enzymtypen führt zur Anreicherung bestimmter Monoamine insbesondere an den Synapsen, somit Erhöhng der zur Signaltransduktion verfügbaren Neurotransmitter | Angstlösend, Linderung von Zwängen, stimmungsaufhellend | Moclobemid, Selegilin |
In Deutschland am häufigsten verordnet wird der SSRI Citalopram.[30]
Neuere Studien weisen darüber hinaus auf eine überraschend hohe Wirksamkeit des Wirkstoffs Ketamin hin, weshalb sich dieses insbesondere bei akut suizidalen und/oder therapieresistenten Patienten mit Major Depression eigne (siehe dazu Hauptartikel: Ketamin als Antidepressivum)
Wichtig im Rahmen der Diagnostik ist die Diskriminierung zwischen einer depressiven Störung und insbesondere dem vornehmlich unaufmerksamen Subtypen (siehe auch: Hypoaktivität) bzw. zwischen ADHS und einer ggf. komorbiden Depression. Hier ergeben sich aufgrund zahlreicher klinischer Überlappungen diagnostische Abgrenzungsschwierigkeiten, weshalb bei unsorgfältiger Diagnosestellung das Risiko einer Fehldiagnose erhöht ist.
Bislang wenig erforscht, jedoch gelegentlich Gegenstand von Beobachtungen der klinischen Praxis, ist das gemeinsame Auftreten der verstärkten ADHS-eigenen Hyperaktivität und depressiven Symptomen. Dies scheint unabhängig von bipolaren oder manischen Störungen vielmehr als überkompensatorisches Coping aufzutreten. Betroffene Patienten geben an, das aktive Verstärken des hyperaktiven Verhaltens unterstütze sie beim Versuch, die depressive Symptomatik gegenüber der Innen- und Außenwelt zu maskieren.