Mehr Sicherheit für ADHS-Patienten
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Divergentes Denken (auch laterales Denken, nichtlineares Denken oder Querdenken genannt) ist eine Denkmethode oder -Art, die im Gegensatz zum linearen Denken steht. Divergentes Denken wird häufig als typisches Merkmal ADHS-Betroffener verstanden. Divergente Denkvorgänge sind im Allgemeinen weit verbreitet und werden meist eher als ein Merkmal der Kreativität begriffen, und nicht als Symptom einer psychiatrischen Störung. Aspekte wie eine schwache zentrale Kohärenz können aber psychosozialen Leidensdruck erzeugen.
In der englischsprachigen Literatur hat sich der Begriff Mind Wandering etabliert.[1]
Divergentes Denken zeichnet sich durch folgende Merkmale aus:
Gegensatz und Antonym zum divergenten Denken bildet das lineare oder vertikale Denken. Divergentes Denken wird weltweit häufig in Unternehmen und Organisationen als Technik zur kreativen und innovativen Problemlösung sowie zur Ideenfindung eingesetzt und trainiert.
Edward DeBono über divergentes Denken:
„Es ist die Fähigkeit, aus dem Gefängnis der alten Ideen auszubrechen und neue zu entwickeln. Diese Art zu denken nenne ich Laterales Denken [...] das vertikale Denken treibt die Ideen weiter, die das laterale Denken hervorgebracht hat. Man gräbt kein zweites Loch, wenn man ein bereits vorhandenes vertieft. Das laterale Denken wird angewendet, um woanders ein Loch zu graben“.[2]
DeBono unterscheidet zwischen divergentem und linearem Denken wie folgt:[3]
Lineares Denken | Divergentes Denken |
---|---|
selektiv | generativ |
analytisch | provokativ |
logisch | sprunghaft |
Der nächste Schritt ergibt sich aus dem vorangegangenen | Zufälliges wird begrüßt |
Nebensächliches wird ignoriert | Nebensächliches wird nicht ausgeschlossen |
alle Einflussgrößen liegen innerhalb eines definierten Systems | spürt dem Unwahrscheinlichen nach |
Während ADHS-Betroffenen konsequentes lineares Denken zumeist schwerfällt, beobachtet man bei diesen häufig eine Neigung zu gedanklichem Abschweifen.[4] Ihr vielschichtiger, auseinanderstrebender Denkstil lässt sie häufig vom Thema abweichen und wichtige Kernaspekte übersehen. Es fällt ihnen dann schwer, beim Thema zu bleiben, Gedanken und Konzepte anderer nachzuvollziehen, nicht an Nebensächlichkeiten haftenzubleiben, Zusammenhänge genau zu verstehen und ihre eigenen Gedanken kohärent zu verbalisieren. So kommt es in Diskussionen mit Betroffenen oftmals dazu, dass sich die Diskussion im Kreis zu drehen scheint und kein Konsens zu finden ist, da im Zuge der weiten gedanklichen Ausschweifungen immer wieder Einwände gesehen werden („ja aber...“), ungeachtet dessen, ob diese möglicherweise unpassend, unzutreffend oder kontextfremd sind. Ursächlich ist hier vor allem die mangelhafte Fähigkeit zur Impulskontrolle sowie das schwache Arbeitsgedächtnis zu sehen. Während die schwach ausgebildete Impulskontrollfähigkeit die auseinanderstrebenden Denkmuster entfacht oder unterstützt, kann ein schwaches Arbeitsgedächtnis zu Redundanz führen.
Schwierig für Außenstehende gestalten sich kontroverse Diskussionen mit Betroffenen, die bei ihrer Entwicklung von Gedanken und Argumenten haftenbleiben, hyperfokussieren oder nicht bereit oder in der Lage sind, eine andere Perspektive einzunehmen. Die Betroffenen stehen dann gegebenenfalls vor dem Problem des „Dunning-Kruger-Effekts“,[5] - sie überschätzen sich und ihre Kompetenzen, während die Leistungen anderer unterschätzt werden. In diesem Zusammenhang ergeben sich für die Betroffenen auch häufig Schwierigkeiten, Regeln, Normen und Absprachen zu akzeptieren und einzuhalten. Viele ADHS-Betroffene lernen erst mühsam im Erwachsenenalter, oder im Rahmen einer Therapie, themengebundener und strukturierter zu denken.
Im Folgenden einige Beispiele für problematische Situationen in Dialogform (in Klammern stehendes wird nicht geäußert, sondern steht für den zurückgelegten Gedankenweg).
Mutter (41):
„Du darfst in einem Geschäft nicht einfach einen Apfel nehmen und in deine Hosentasche stecken. Das ist Diebstahl. Stehlen ist verboten, das steht im Gesetz".
Sohn (16):
„Ich weiß, dass man dafür bestraft wird und dass das Diebstahl ist. Aber wieso ist das dann kein Diebstahl, wenn ich im Park einen Apfel vom Baum nehme? Das ist total unlogisch und macht keinen Sinn. [...den Apfel hat das Geschäft auch von irgendeinem Apfelbaum in der Natur...], er verlangt einfach so Geld dafür und zockt die Menschen quasi ab [...die Natur gehört doch allen, so wie die Luft. Luft kann man auch nicht verkaufen, auch wenn das manche sicher gerne tun würden...] Und Luft kann ich ja auch einfach einatmen, egal was im Gesetz steht. Für mich ist das einfach kein Diebstahl“.
Bernd (25)
„Es ist ja typisch für altruistische Menschen, dass sie sich viel um andere kümmern und im Anschluss kein Danke erwarten. Mutter Teresa ist ein gutes Beispiel für einen altruistischen Menschen".
Michael (26):
„Ja, aber Mutter Teresa ist ja Inderin, ich glaube, das ist bei den Indern oft so [...ist ja eine ganz andere Kultur als bei uns. Und auch bei den Franzosen ist das wahrscheinlich so, die hatten ja Kolonien in Indien...] Das ist bestimmt auf dem Mist der Französischen Revolution gewachsen. [...im Endeffekt haben wir den Altruismus wahrscheinlich den Franzosen zu verdanken, auch in Deutschland wurde es dann ja unter Kaiser Wilhelm I besser...] Wahrscheinlich hat Napoleon den Altruismus nach Indien gebracht, gewissermaßen."
Sabine (29):
„Ich habe gehört, Hunde sollten keine Schokolade essen. Sie können daran sterben".
Simon (38):
„Naja, ich halte das für totalen Quatsch. Das Verdauungssystem von Hunden ist dem des Menschen ähnlich. Einem Hund sollte Schokolade daher nicht weiter schaden. Unser Blacky hat außerdem auch mal Schokolade gegessen, und ihm geht es prima!“.
Sabine (29):
„Du hast nicht Unrecht, aber Hunde können soweit ich weiß Theobromin und Koffein nicht genauso abbauen. Es lässt sie kollabieren. Das ist ja auch wissenschaftlich begründet und belegt. Vielleicht hat Black ja nur so wenig Schokolade gegessen, dass es ihn nicht vergiftet hat?“.
Simon (38)
„Ja, aber das Verdauungssystem ist ja, wie gesagt, beim Menschen ähnlich. Ich glaube nicht, dass es schadet und Wissenschaftler können mir viel erzählen“.
Die vorangegangenen Beispiele sind überzeichnend und sollen die assoziative und ausschweifende Denkweise skizzieren. Die Denkweise des Sohnes (16) veranlasst diesen zu subjektivem Schlussfolgern und Transferieren auf sachfremde Argumentationsebenen (siehe auch: Soziale Kohärenz). Dabei ignoriert er die Tatsache, dass stehlen gesetzlich verboten ist (Ignoratio elenchi).[6]
Michael (26) assoziiert und argumentiert ausschweifend und zieht inkorrekte Schlüsse, während Simon (38) zu persevatorischer Redundanz neigt. Insbesondere dann, wenn die Leistung des Arbeitsgedächtnisses verschlechtert und die Impulshemmung mangelhaft ist, besteht die Gefahr des inkorrekten und/oder unlogischen Schlussfolgerns, aber auch häufigeren Infragestellens von Regeln und Normen. Defizite im Arbeitsgedächtnis können im Weiteren auch zu Konfabulationen führen.
Bei Menschen mit ADHS kann es aufgrund ihrer impulsiven-wechselhaften Denkweise vorkommen, dass ihre Meinung oder Haltung unbeständig und inkonsistent erscheint. Dieses ambivalente Außenbild führt häufig dazu, dass Außenstehende an der Ehrlichkeit, Verbindlichkeit und Loyalität des ADHS-Betroffenen zweifeln, etwa wenn er sich zu einer Sache kurz zuvor noch ganz anders geäußert hat, als wenig später. Dieser Umstand wird von Betroffenen als sehr belastend empfunden.
Auch entsteht oft der Eindruck, die Betroffenen neigten zu widersprüchlichen Doppelbotschaften, Wortklaubereien oder Verdrehen von Tatsachen. Wenngleich dieses Verhalten bei ADHS-Betroffenen tatsächlich verbreitet ist, muss dies nicht willentlich (manipulativ) erfolgen, da Betroffene ihre Erinnerungen bisweilen unterschiedlich assoziieren. Zudem erschwert die verschlechterte Leistung des Arbeitsgedächtnisses oft die spontane, präzise Erinnerung von Sachverhalten und Zusammenhängen.
Werden Gedanken, die nichtlinearen Denkprozessen entspringen, für Außenstehende nicht kohärent erklärt, oder wird das Verhalten nicht entschuldigt, so führt dies oftmals zu Konflikten. Betroffene können häufig nicht nachvollziehen, dass ihre Gedanken für andere nicht nachvollziehbar sind, während ihr eigenes Kohärenzerleben oftmals paradoxerweise selbst niedriger ist - die Betroffenen erwarten also, von anderen verstanden zu werden („ist doch klar, was ich meine!“), während sie selbst Probleme damit haben, anderen zu folgen. Diese Diskrepanz führt in der Regel zu einem Eindruck von arroganter Anmaßung und Selbstüberschätzung.
Divergentes Denken bildet, als wichtige exekutive Funktion, eine grundlegende Voraussetzung für die Umsetzung von Intelligenzressourcen. Das zentrale Problem in der Kombination mit ADHS stellt die mangelnde Impulskontrolle und das schwache Arbeitsgedächtnis dar. Wenn Betroffene lernen - zum Beispiel im Rahmen der Therapie - Gedankensprünge zu regulieren, zu sehr abschweifende Assoziationen zu erkennen, diszipliniert zu handeln und Themenschwerpunkte zu fokussieren, so kann die divergente Denkweise eine der wichtigsten und wertvollsten Ressourcen der Betroffenen darstellen. Treffen Hyperfokus und dosiertes sowie bewusst gesteuertes divergentes Denken aufeinander, sind kognitive Höchstleistungen und ein hohes kreatives Niveau zu erwarten.