Paradoxe Reaktion bei ADHS
Als paradoxe Reaktionen werden in der Medizin Reaktionen bezeichnet, bei denen ein Wirkstoff das Gegenteil des beabsichtigten Effekts hervorruft. Ein Beispiel ist etwa eine sedierende Wirkung von Koffein oder das Auftreten von Schlaflosigkeit nach Einnahme von Tranquilizern. Paradoxe Reaktionen treten manchmal gemeinsam mit ADHS auf.
Paradoxe Reaktionen bei ADHS
In der Literatur ist verschiedentlich beschrieben, dass paradoxe Reaktionen auf bestimmte Medikamente bei ADHS-Betroffenen gehäuft auftreten. Dies betreffe unterschiedlichste Wirkstoffe, besonders häufig aber stimulierende Substanzen wie Nikotin und Koffein, andererseits aber auch zum Beispiel Benzodiazepine, für welche dann aktivierende, statt dämpfende Wirkungen beobachtet werden. Vor allem vor Operationen sollten Anästhesisten daher auf die beim Patienten möglicherweise andersartige Wirkungsweise von Substanzen hingewiesen werden, um mögliche intra- und postoperative Komplikationen vermeiden zu können.
Der etwaige Zusammenhang zwischen ADHS und paradoxen Wirkungen ist bislang jedoch nicht systematisch erforscht worden und paradoxe Medikamentenreaktionen können grundsätzlich bei allen Menschen auftreten. Als Ursache ist eine genetische Veranlagung naheliegend, die mit einer atypischen Verstoffwechselung verbunden ist. Daneben werden in der Literatur auch pharmakodynamische Faktoren diskutiert, etwa Varianten in Neurotransmitter-Rezeptoren (z. B. GABA-A-Rezeptoren bei Benzodiazepinen) oder in monoaminergen Systemen, die dazu führen können, dass die Reaktion auf bestimmte Substanzen von der üblichen Richtung und Intensität abweicht.
Die vorhandenen Hinweise zu paradoxen Effekten bei ADHS stützen sich überwiegend auf Kasuistiken, Fallserien und klinische Erfahrungsberichte. Kontrollierte Studien, die systematisch prüfen, ob ADHS-Betroffene tatsächlich häufiger paradox reagieren als Vergleichsgruppen ohne ADHS, liegen bislang kaum vor. Dies gilt insbesondere für Alltagsstimulanzien wie Koffein und Nikotin. Hier finden sich zwar zahlreiche anekdotische Berichte über beruhigende oder schlaffördernde Wirkungen, empirische Daten zeigen bisher jedoch keinen konsistenten, spezifischen Effekt, der ADHS eindeutig von der Allgemeinbevölkerung abgrenzen würde.
Die verbreitete Vorstellung, Stimulanzien wirkten bei ADHS grundsätzlich „beruhigend“, während sie bei Menschen ohne ADHS vor allem aktivierend seien, wird durch neuere Untersuchungen nur eingeschränkt gestützt. In kontrollierten Studien zeigen Stimulanzien wie Methylphenidat und Amphetamine im Mittel vergleichbare neurokognitive Effekte bei Personen mit und ohne ADHS, wobei sich vor allem die Ausgangssymptomatik und die Variabilität der Reaktionen unterscheiden. Paradoxe Reaktionen werden daher eher als seltene, idiosynkratische Arzneimittelreaktionen verstanden, die durch individuelle neurobiologische und genetische Besonderheiten bedingt sind und nicht als typisches oder gar diagnostisches Merkmal von ADHS gelten sollten.
Problematik geringer Glaubwürdigkeit
Paradoxe Wirkungen können im praktischen Kontext eine erhebliche Belastung für die Betroffenen sein, wenn von Ärzten angenommen wird, dass der Patient die beschriebenen Wirkungen lediglich unter- oder übertreibe. Dies kann zu Fehlentscheidungen in der Behandlung führen, etwa zu unnötigen Dosissteigerungen, vorschnellem Absetzen wirksamer Medikamente oder dem Wechsel auf Substanzen mit ungünstigerem Nebenwirkungsprofil. Für die Betroffenen geht dies häufig mit einem erheblichen Vertrauensverlust einher: Sie erleben sich nicht ernst genommen, zweifeln an der eigenen Wahrnehmung und entwickeln mitunter eine ausgeprägte Skepsis gegenüber weiterer medikamentöser Behandlung. Langfristig kann sich so ein Muster wiederholter Entwertung etablieren, in dem Berichte über ungewöhnliche Wirkungen gar nicht mehr geäußert oder nur noch in zugespitzter Form vorgebracht werden, was die therapeutische Zusammenarbeit zusätzlich erschwert.
Paradoxe Wirkungen bei Methylphenidat
Früher wurde angenommen, dass bei Stimulanzien von einer generellen paradoxen Wirkung auszugehen sei. Dabei wurde postuliert, dass die Stoffe auf gesunde Menschen anregend wirken und auf Patienten mit ADHS beruhigend. Die Wirkung von Methylphenidat bei ADHS-Diagnostizierten wurde dabei auch ex juvantibus als Beleg gesehen, dass die Diagnose korrekt war.[1] In neueren Studien zeigte sich jedoch, dass die Wirkungen von Methylphenidat bei Menschen mit und ohne ADHS gleichartig sind.[2][3] Vielmehr sprechen nicht alle Menschen in gleicher Weise auf das Präparat an (Non-Responder). Von der Verhaltensänderung unter Medikation kann daher nicht auf ADHS geschlossen werden:
„Ritalin ist ein effektives, schnellwirksames Medikament, das eine Steigerung der Konzentrationsleistung erwirken kann. Eine große NIMH-Studie hat kürzlich hervorgebracht, dass Ritalin die effektivste Behandlungsmethode bei ADHS darstellt. Allerdings beweist eine erfolgreiche Ritalin-Behandlung nicht, dass auch wirklich ADHS vorliegt, denn de facto erhöht Ritalin auch bei gesunden Kindern die Aufmerksamkeit. Insofern ist Ritalin ein Schlüsselfaktor für das Begehren nach der Diagnose ADHS, solange die ADHS-Diagnose für eine Ritalinverschreibung vorausgesetzt ist.“[4]
– Ilina Singh, 2002
Siehe auch
Weblinks
- Paradoxe Reaktionen bei ADHS, Ärzteblatt, 2011
- „Doping durch Medikamente auch beim Schach“, Chess International, 25.01.2017
Weitere interessante Artikel

Einzelnachweise
- ↑ goo.gl/rofyge
- ↑ https://www.freidok.uni-freiburg.de/fedora/objects/freidok:1654/datastreams/FILE1/content
- ↑ Walker, Sidney, Hyperactivity, St. Martins Press, New York, 1998)
- ↑ https://www.researchgate.net/publication/231747573_Bad_Boys_Good_Mothers_and_the_Miracle_of_Ritalin