Mehr Sicherheit für ADHS-Patienten
Medikamenten-Ausweis nach § 4 Abs. 3 BtMG
Angesichts der seit den 1990er Jahren[1][2] auch in Deutschland stark angestiegenen Verschreibungszahlen von Psychostimulanzien werden die Zuverlässigkeit und Aussagekraft von ADHS-Diagnosen auch im öffentlichen Diskurs zunehmend kritisch hinterfragt.[3] Kern der Debatte ist die Frage, ob man von einer systematischen Überdiagnostizierung auszugehen hat.
Ein systematisches Scoping Review lieferte im Jahr 2021 neue Hinweise, dass ADHS bei Kindern und Jugendlichen sowohl überdiagnostiziert, als auch übertherapiert wird.[4] Die Autoren warnen vor möglichen Schäden bei Kindern und Jugendlichen durch die übertriebene Verwendung des Labels „ADHS“ und die Nebenwirkungen der eingesetzten Medikamente.
Seit den 2010er Jahren werden zunehmend einzelne Fälle von Fehldiagnosen bekannt, die aus einer diagnostischen ADHS-Fixierung resultiert sind. Ein prominentes Beispiel ist der „Fall Daniela“, welcher vom Kölner Stadt-Anzeiger im Februar 2021 unter dem Titel „Alle Alarmsignale überhört“ aufgearbeitet wurde. Dort wurde aufgrund einer diagnostischen Fixierung fälschlicher Weise eine ADHS diagnostiziert, obwohl den Symptomen des Mädchens sexueller Missbrauch zu Grunde lagen.[5] Seit den 2010er Jahren wird immer wieder auf die Risiken einer nicht indizierten ADHS-Therapie hingewiesen.[6]
Gemäß mehrerer aktueller Studien finden sich Hinweise, dass falsch-positive ADHS-Diagnosen vor allem bei Jungen und jüngeren Vorschulkindern relativ häufig vorkommen. Als mögliche Gründe werden vor allem unsorgfältige diagnostische Verfahren und Heuristiken angeführt, bei denen insbesondere die Differenzialdiagnostik (diagnostischer Ausschluss anderer in Frage kommender organischer oder psychogener Ursachen) vernachlässigt werde. Letztlich können selbst scheinbar triviale Faktoren, wie Schlafstörungen oder Mangelerscheinungen, zur falschen Annahme führen, dass eine ADHS vorliegt.
Im Jahr 2012 widmete sich eine Studie von Bruchmüller und Kollegen erstmals der Frage, ob die ADHS-Diagnose auf „schwierige" Kinder und Jugendliche gegenwärtig tatsächlich inflationär angewandt wird und somit in der Tat von einer Überdiagnostizierung auszugehen ist.[8] Grundlage der Studie bildete die Hypothese, dass diagnostische Entscheidungen hinsichtlich psychischer Störungen vor allem durch eine Orientierung an prototypischen Kriterien getroffen werden und somit unzuverlässige Diagnosen begünstigt sind.
In der Untersuchung stellte sich diese Annahme insofern als zutreffend heraus, als dass einerseits der Anteil der falsch-positiven Diagnosen (16,7 %) signifikant höher lag als der Anteil der falsch-negativen Diagnosen (7 %), und andererseits der Anteil falsch-positiver Befunde bei Jungen (21,8 %) signifikant höher lag als bei Mädchen (6,6 %). Im Weiteren zeichnete sich eine deutliche Korrelation zwischen dem Geschlecht der beurteilenden Therapeuten und der Diagnosevergabe ab: Männliche Therapeuten stellten deutlich häufiger positive Befunde als weibliche.
Die Forscher sehen die Hypothese bestätigt, dass viele Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und -psychiater bei der diagnostischen Urteilsbildung nicht immer rein datenbasiert vorgehen, sondern stattdessen vereinfachende Heuristiken anwenden. Die Anwendung solcher Faustregeln, welche zum Beispiel auf einem persönlichen „Bauchgefühl“ beruhen können, erhöhen das Risiko für vorschnelle und fehlerhafte Diagnosen. Zur Vermeidung von Fehldiagnosen sollten die Kliniker sich vielmehr unter Zuhilfenahme standardisierter Befragungsinstrumente (DISYPS-KJ[9], strukturierte Interviews) vermehrt an den diagnostischen Kriterien orientieren und von intuitiven Beurteilungen absehen.[10] Die Studie wurde jedoch von einigen Seiten kritisiert, da sie lediglich auf theoretischen Fällen basiert.[11][12]
Eine Studie von Elder (Michigan State University) mit etwa 19.000 Kindern aus knapp 1000 Einrichtungen verglich die ADHS-Rate von einem Jahr früher eingeschulten Kindern mit jenen Kindern, die ein Jahr später eingeschult wurden. Dabei wurden in der Kohorte der jung eingeschulten Kinder deutlich mehr Kinder (8,4 %) mit ADHS diagnostiziert, als in der Gruppe der älter eingeschulten Kinder (5,1 %).[13] Elder sieht dies als Beleg für die Hypothese an, dass es Tendenzen gibt, die entwicklungsbedingte Unreife jüngerer Kinder mit psychiatrischen Diagnosen wie ADHS zu pathologisieren.
Die Auswirkungen sowohl falsch-positiver als auch falsch-negativer ADHS-Diagnosen können weitreichend und schwerwiegend sein. Zielsetzung der Diagnosestellung ist stets, die Planung für ein adäquates therapeutisches Vorgehen zu ermöglichen. Bei einer falschen Diagnose besteht das Risiko, dass eine wirksame Therapie, welche auf die tatsächlich zugrundeliegenden Indikationen abzielt, nicht gewährleistet werden kann; im schlimmsten Fall erleidet der Patient durch die Fehlbehandlung, welche auf die falsche Diagnose zurückgeht, weitere Schäden.
Sich häufende Fehldiagnosen – und die einhergehende ungerechtfertigte Ausweitung der Verschreibungszahlen von Medikamenten – tragen zu einem gesellschaftlichen Bild der Störung bei, welches sich als Mode- oder Lifestyle-Diagnose[14] vermittelt.
Wird im Kindes- und Jugendalter irrtümlich eine ADHS diagnostiziert, so erfolgen ggf. (auch medikamentöse) Maßnahmen zur Behandlung einer nicht vorhandenen ADHS, während Interventionen zur Beseitigung der eigentlichen Problemursachen unterbleiben. Dies ist insbesondere in Zusammenhang mit ggf. noch anhaltendem Missbrauch und Vernachlässigung falsch-positiv diagnostizierter Kinder als gefährlich einzustufen, da die Verhaltensauffälligkeiten auf genetische Ursachen festgeschrieben werden und eine weitere sozialanamnestische Exploration unwahrscheinlich machen.[15] Im Weiteren entwickeln die Betroffenen ein Selbstkonzept auf der Grundlage einer nicht vorhandenen Störung mit entsprechenden Implikationen für die weitere Entwicklung sowie dem Risiko einer lebenslang wirkenden Stigmatisierung. Problematisch sind auch emotionale Nebenwirkungen von Stimulanzien, da diese bei verschiedenen Differenzialdiagnosen kontraindiziert sind (etwa bipolare Störung, Schizophrenie, Angststörung, Hochsensibilität).
Darüber hinaus kann ADHS, neben der potentiellen Stigmawirkung, auch selbstbildstiftende Effekte haben.
Ein besonders hohes Risiko stellen falsch-positive ADHS-Diagnosen in Zusammenhang mit anhaltendem (sexuellem, emotionalem etc.) Missbrauch dar. Die Symptome der ADHS und die einer (komplexen) posttraumatischen Belastungsstörung weisen nicht nur hinsichtlich der externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten (Übererregungssymptomatik, Hypervigilanz, Hyperarousal) deutliche Überlappungen auf; vielmehr können auch Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit Folgen vorangegangener Missbrauchserfahrungen sein,[16] weshalb gerade hier ein hohes Risiko einer Fehldiagnose besteht.[17] Vor allem sexueller Missbrauch bleibt häufig für lange Zeit oder dauerhaft unentdeckt. Zudem fehlen die Erinnerungen an die Missbrauchserlebnisse manchmal vollständig (dissoziative Amnesie)[18], was bei der psychiatrischen Exploration das Risiko eines schlichten Übersehens der Traumakomponente birgt. Durch die diagnostische Fokussierung auf ADHS erhöht sich zudem die Gefahr signifikant, dass die Möglichkeit der erlebten oder anhaltenden Missbrauchserfahrungen anamnestisch unberücksichtigt bleibt.[19] Insbesondere bei noch weiter fortbestehendem Missbrauch kann dies vor allem hinsichtlich suizidaler Dekompensationsreaktionen mit fatalen Folgen verbunden sein, die im Sinne einer sorgfältigen Anamnese unbedingt zu vermeiden sind.
→ Siehe auch: Selbstwahrnehmung von ADHS-Betroffenen sowie Stigmatisierung und ADHS.
Eine unerkannte ADHS kann ein hohes Risiko negativer Entwicklungen sowie der Ausbildung weiterer Erkrankungen bergen. So besteht bei einer unbehandelten und schwerer ausgeprägten ADHS die Gefahr eines nicht angemessenen Lebenslaufs, der Ausbildung weiterer Komorbiditäten wie Suchterkrankungen und Depressionen sowie partnerschaftlicher, familiärer und beruflicher Schwierigkeiten. Darüber hinaus besteht auch bei einer unerkannten ADHS die grundsätzliche Gefahr von Fehldiagnosen benachbarter Störungen oder Verlegenheitsdiagnosen, die ggf. wirkungslose Therapien und eine Verschlechterung der Symptomatik zur Folge haben. So wurde 2014 im Rahmen einer Analyse von Daten aus dem Zeitraum von 1976 bis 2013 festgestellt, dass zahlreiche Betroffene, die von einer gezielten Behandlung profitiert hätten, keine Diagnose und folgerichtig auch keine Behandlung erhalten hatten.[20]
→ Siehe auch: Entwicklung der ADHS.
Bei der ADHS-Diagnostik ist die Berücksichtigung bzw. der Ausschluss ähnlicher infragekommender Störungsbilder wichtig. Grundsätzlich sind Verwechslungen mit symptomatisch benachbarten Störungen nicht selten. Schwierig und fehlerträchtig ist die Differenzialdiagnostik vor allen Dingen, weil weitere Störungen auch immer komorbid auftreten können. Dies ist bei einer ausgeprägten ADHS sogar in aller Regel der Fall.
Im Rahmen der ADHS-Diagnostik kommen aufgrund überschneidender Symptome vor allem in Frage:[21]
Im Kindesalter:
Im Erwachsenenslter:
Auf organischer Seite müssen generell ausgeschlossen werden:
Zu beachten ist auch, dass ADHS-Symptome auch medikamenteninduziert sein können, beispielsweise durch die Einnahme von Neuroleptika, Benzodiazepinen, Antihistaminika oder Isoniazid.
Ein Bericht des UNO-Drogenkontrollrats INCB des Jahres 2014[24] stellt einen weltweiten Verschreibungsanstieg von Methylphenidat um 70% zwischen den Jahren 2012 und 2013 fest. Laut INCB sei dieser Anstieg wahrscheinlich unter anderem auf einen Mangel an genauen Verschreibungsrichtlinien zurückzuführen.
Einschätzungen unterschiedlicher Experten sind, wie nachfolgend ersichtlich, mitunter deutlich divergierend. Einzelne Schätzungen über die Verteilung falsch-positiver ADHS-Diagnosen sind ebenso häufig wie inkonsistent, da die empirische Befundlage auf Bundesebene für gesicherte Aussagen aktuell nicht hinreichend ist. Insofern können Expertenschätzungen momentan allenfalls auf regional oder institutionell begrenzten Daten basieren. → Siehe auch: Anekdotische Evidenz.