Mehr Sicherheit für ADHS-Patienten
Medikamenten-Ausweis nach § 4 Abs. 3 BtMG
Gerald Hüther (*15. Februar 1951 in Emleben, Thüringen) ist ein deutscher, habilitierter Neurobiologe, Autor und Redner. Deutschlandweite Bekanntheit erlangte Hüther vor allem durch seine populärwissenschaftlichen Bücher zur Hirnforschung sowie zahlreiche Auftritte in Fernsehen und Rundfunk. Auch ist er auch als Kritiker des Schulsystems bekannt.[1]
Weitere Aufmerksamkeit erlangte Hüther, nachdem er auf Grundlage einer seiner Forschungsarbeiten im Jahr 2002 öffentlich die (nach aktuellen Erkenntnissen unbegründete)[2] Befürchtung äußerte, dass Methylphenidat bei Kindern mit ADHS als Spätfolge Bewegungsstörungen verursachen könne, welche denen bei Parkinson-Kranken ähneln sollten.
Nach dem Abitur im Jahr 1969 absolvierte Hüther von 1969 bis 1973 sein Grund- und Fachstudium (Biologie sowie Tierphysiologie) an der Universität Leipzig.[3] Nach Beendigung des Studiums und seiner Flucht aus der ehemaligen DDR in die Bundesrepublik Deutschland forschte er am Göttinger Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin auf dem Gebiet der Hirnentwicklungsstörungen. Im Jahr 1988 folgten die Habitilation im Fachbereich Medizin an der Universität Göttingen sowie die Lehrerlaubnis für Neurobiologie.
Als Stidpendiat im Heisenberg-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) war er von 1990 bis 1995 als Mitarbeiter in der Abteilung für neurobiologische Grundlagenforschung an der Psychiatrischen Klinik der Universitätsmedizin Göttingen tätig. An dieser ist er bis heute als wissenschaftlicher Mitarbeiter beschäftigt. Bis 2013 betrieb er dort zudem eine selbst getragene[4] „Zentralstelle für neurobiologische Präventionsforschung“.
Als Autor veröffentlichte er mehr als hundert Originalarbeiten, Buchbeiträge, wissenschaftliche Monographien und populärwissenschaftliche Sachbücher.[5][6][7]
Bundesweite Bekanntheit erlange Hüther durch seine zahlreichen Vorträge und Interviews zur Hirnforschung, in denen er die Erkentnnisse der Hirnforschung in einen Bezug zum alltäglichen Leben setzt.
Hüther ist in zweiter Ehe verheiratet und hat einen Sohn und zwei Töchter.
Bis 2005 war Hüther forschend und publizierend auf dem Gebiet der experimentellen Hirnforschung tätig. Zu den Schwerpunkten seiner wissenschaftlichen Tätigkeit zählten Hirnentwicklungsstörungen, Beeinflussung von Hirnfunktionen durch nutritive Faktoren, Rolle von Serotonin als morphogenetischer Faktor und als Immunmodulator, Physiologische Regulation und Bedeutung von Melatonin, langfristige Modulation monoaminerger Systeme, Wirkmechanismen von Psychopharmaka, Auswirkungen psychischer Belastungen sowie Entwicklungspsychopharmakologie.
Gemeinsam mit dem Göttinger Pädagogen Karl Gebauer leitet Hüther seit 2002 das Informationsnetzwerk Win-Future, welches laut eigenen Angaben der „Verbindung von Wissenschaft und Praxis“ dienen soll.[8]
Außerdem war er bis 2013 Vorsitzender des wissenschaftlichen Kuratoriums der sogenannten Sinn-Stiftung. Dabei handelt es sich um ein Projekt, welches unter anderem alternative, insbesondere erlebnispädagogische Behandlungskonzepte zu ADHS umsetzt.[9] Im Jahr 2013 geriet ein Projekt der Sinn-Stiftung, welches zur erlebnispädagogischen Alternativbehandlung von ADHS vorgesehen war, in starke mediale Kritik.[10][11]
Des Weiteren ist Hüther Gründer der Netzwerke Archiv der Zukunft - Netzwerk für Schulentwicklung[12], Wissenschaftliches interdisziplinäres Netzwerk für Erziehung und Bildungsfragen sowie des Forum Humanum, einem Netzwerk für humanitäre Fragen in der Wirtschaft.[13]
Hüther ist für seine Kritik und Hinterfragung an der gegenwärtigen wissenschaftlichen Modelle zu ADHS bekannt. Seine Meinung weicht mitunter stark vom aktuellen wissenschaftlichen Konsens ab. Seine Kritiken beziehen sich insbesondere auf die von Wissenschaft und Medizin gemeinhin anerkannte, genetisch mitbedingte Ätiologie[16], bei welcher davon ausgegangen wird, dass sie mit einer erhöhten Dopamintransporter-Dichte im Striatum in Zusammenhang steht. Vielmehr lautet seine Hypothese diametral gegenläufig, dass ADHS mit einer erhöhten Dopamin-Konzentration assoziiert sein könnte.[17] Eine Untersuchung dieser Hypothese wurde laut Hüther von der Deutschen Forschungsgesellschaft nach einer Beantragung durch ihn abgelehnt.[18]
Entgegen etwa der bio-psychosozialen Ursachenhypothese, wie sie auch von Manfred Döpfner formuliert wurde und bei der von einer maßgeblichen genetischen Beteiligung ausgegangen wird, postuliert Hüther primär psychosoziale Ursachenfaktoren für die Entstehung von ADHS-Symptomen,[19] darunter zum Beispiel mangelnde Sozialisierungserfahrungen in der Kindheit. Entsprechend ausgerichtet sind auch seine Konzepte zum Umgang mit ADHS, welche eine Medikamentengabe kategorisch nicht beinhalten. Dazu zählen etwa die vornehmlich erlebnispädagogischen Konzepte der Sinn-Stiftung,[20] für die gegenwärtig noch Wirksamkeitsnachweise ausstehen.[21]
Auch vor dem Hintergrund eines angenommenen, stärker ausgeprägten dopaminergen Systems bei ADHS-Betroffenen postuliert er psychogene Kausalzusammenhänge. So werde jenes aufgrund der höheren Empfänglichkeit für Stimuli wesentlich häufiger aktiviert und somit zu verstärktem Auswachsen der axonalen Fortsätze angeregt, während „andere, weniger intensiv benutzte neuronale Verschaltungen enstsprechend weniger stark entwickelt und ausgebaut“ würden.[22]
Darüber hinaus kritisierte er - auch als Autor und Mitautor im Rahmen diverser Publikationen[23] - die Pharmakotherapie als symptomatische Behandlungsform der ADHS:[24]
„Es gibt Entwicklungen, die sind so schwer, dass man nicht mehr weiß, was man machen soll und (...) diese Kinder brauchen Hilfe. Da diese Hilfe relativ kompliziert und sehr zeitaufwändig ist, behilft man sich, indem man ihnen eine Tablette gibt (...)[25] Die Pillen helfen zu funktionieren. Aber man muss auch immer daran denken, dass wenn das Medikament diese Regulation im Hirn übernimmt, dann kann das Kind das gar nicht mehr lernen, es selbst, von sich aus, zu regulieren. Es geht ja um Impulskontrolle und um die Fähigkeit, auch mal ein bisschen Frust auszuhalten, eine Handlung zu planen. Und das muss sich alles im Hirn entwickeln und das kann sich nur entwickeln, wenn Kinder dazu Gelegenheiten haben.“[26]
Vergleichbare Äußerungen Hüthers, welche seine Zweifel an der gängigen Ätiologie und den Behandlungsleitlinien der ADHS implizieren, werden auch von einigen Mitgliedern von ADHS-Selbsthilfeverbänden und -Vereinen mit starkem Unmut aufgenommen, da die Betroffenen sich invalidiert sehen und der Auffassung sind, dass derartige Äußerungen die Öffentlichkeit fehlinformieren und dazu führen, dass Betroffene daraufhin keine angemessene und wirkungsvolle Hilfe erhalten.
Des weiteren kritisiert Hüther die modernen bildgebenden Verfahren, mit deren Unterstützung psychische Abnormitäten wie ADHS auf ihre Ätiologie hin untersucht und differenziert werden sollen (→ siehe auch: Neurobiologie der ADHS):
„Trotz der inzwischen erreichten, recht beachtlichen Sensitivität und Auflösung unserer bildgebenden Verfahren (für Vorgänge im Gehirn) sind wir noch weit davon entfernt, diese Bahnungsprozesse darstellen zu können. Was wir mit diesen Techniken gegenwärtig erkennen können, ist bestenfalls vergleichbar mit dem, was eine Luftbildaufnahme einer Grossstadt im Nebel über das Leben der Menschen in dieser Stadt aussagt. Wir können die Lage und Grösse einzelner Stadtteile und die Breite besonders befahrener Verbindungsstrassen vermessen. Mit Hilfe der funktionellen Verfahren lässt sich erkennen, in welchen Regionen normalerweise mehr Betriebsamkeit herrscht und wie sich die Verhältnisse ändern, wenn mehr oder weniger gezielt in das alltägliche Getriebe eingegriffen wird.”[27]
Ähnliche Einwände hinsichtlich der Erforschung hirnphysiologischer Prozesse und pathogener Ursachenzusammenhänge mittels moderner Bildgebungstechnologien werden immer wieder auch von anderer Seite vorgebracht, etwa vom Nature Neuroscience-Editorial[28] sowie von Felix Hasler.[29][30]
Hinsichtlich möglicher Langzeitfolgen von Methylphenidat:
„Von Anfang an war die Verabreichung von Psychostimulantien an Kinder mit einer ADHS-Diagnose eine symptomorientierte Behandlungsform. Die möglichen Gefahren und Risiken einer Langzeitbehandlung von Kindern mit Psychostimulantien lassen sich gegenwärtig nur sehr schwer abschätzen, da gezielte Langzeituntersuchungen am Menschen noch immer fehlen. Aus den USA, wo das Medikament bereits seit längerem und in größerem Umfang eingesetzt wird, sind bisher noch keine negativen Langzeitwirkungen berichtet worden. Vielleicht hat man aber auch noch nie gezielt nach solchen unerwünschten Effekten gesucht.“[31]
Tatsächlich lassen sich aufgrund des gegenwärtigen Mangels an empirischen Untersuchungen bislang keine Aussagen über mögliche Langzeitwirkungen von Methylphenidat treffen; aus den bisherigen klinischen Studien lassen sich jedoch auch keine Besorgnisse hinsichtlich Spätschäden ableiten, wie eine Übersichtsarbeit von Vitello (2001) zeigt.[32]
Im Jahr 2001 untersuchte Hüther als wissenschaftlicher Mitarbeiter einer psychiatrischen Forschungsgruppe (unter anderem Rothenberger, Moll) der Universität Göttingen im Rahmen tierexperimenteller Arbeiten die Auswirkungen von SSRI und Methylphenidat auf die Entwicklung des Gehirns.[33] Die Untersuchungen wurden mit insgesamt fünf jungen und gesunden Ratten bei einer Gabe von 2 mg/kg Methylphenidat pro Tag über zwei Wochen hinweg durchgeführt. Dabei wurde unter anderem deutlich, dass die Gabe von Methylphenidat mit einer definitiven Verringerung des Dopamintransporters auch nach dem Absetzen des Präparats einhergeht. Die Arbeitsgruppe interpretierte dies als mögliche Folge einer Hemmung der Ausreifung des dopaminergen Systems in den betroffenen Hirnarealen. Insbesondere für fehldiagnostizierte und inkorrekt medizierte Patienten äußerte Hüther daraufhin in einer Pressemitteilung im Arzneitelegramm die Befürchtung, dass eine Behandlung mit Methylphenidat mit dem Risiko einer späteren Ausbildung dopaminerger Mangelsyndrome, etwa Morbus Parkinson, einhergehen könne:
„Werden aber Kinder mit Ritalin behandelt, die gar kein überstark ausgebildetes dopaminerges System besitzen und nur ähnliche Verhaltensstörungen aufweisen, so würde durch diese ‚Behandlung’ eine defizitäre Ausformung der dopaminergen Innervation in den distalen Zielgebieten (z.B. im Striatum) erzeugt. Damit liefe man Gefahr, die Voraussetzungen für die Entstehung eines Krankheitsbildes zu verbessern, das durch eine unzureichende Aktivität des nigrostriatalen dopaminergen Systems gekennzeichnet ist, aber erst sehr viel später zutage tritt: das Parkinson-Syndrom."[34]
— Gerald Hüther/Helmut Bonney
An den Forschungsarbeiten beteiligte Fachkollegen Hüthers, darunter Aribert Rothenberger, distanzierten sich von diesen Hypothesen deutlich und bezeichneten sie als „spekulativ“:
„Vor kurzem tauchte eine weitere spekulative Behauptung (...) auf. Der Neurobiologe Prof. Dr. G. Hüther trat an die Öffentlichkeit, um zu erklären, dass Ritalin unter Umständen die Parkinson-Krankheit begünstigen könne, auch wenn es dafür noch keine Nachweise gebe. Sogleich setzte sich o.g. soziologischer Mechanismus in Gang. Voreingenommenheiten und Ängste brachen sich Bahn. Die Äußerungen von Prof. Hüther wurden von seinem Publikum kaum hinterfragt, eher unkritisch verstärkt. So konnten sie Fahrt und Kontur gewinnen und verbreiteten sich über seine Vorträge sowie die Medien sehr rasch. Sie wurden schließlich zu einem handlungsrelevanten Gerücht, dem die Kinder und Jugendpsychiatrie der Universität Göttingen mit einer Eltern-Information und die Deutsche Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie nunmehr mit einer sachbezogenen, offiziellen Stellungnahme entgegengetreten ist (...) Die gegenwärtige Debatte läuft Gefahr, viele Betroffene zu verunsichern und von wirksamer Hilfe abzuhalten. Sie mag aber ihren Nutzen haben, wenn dadurch die Notwendigkeit einer umfassenden biopsychosozialen Sichtweise auf das ADHS-Problem in Erinnerung gerufen und aktualisiert wird.“[35]
So wurde, wie angekündigt, von Rothenberger und Kollegen eine systematische Kritik der Parkinson-Hypothese veröffentlicht,[36] Parkinson-Forscher Heinz Reichmann bezeichnete Hüthers Interpretation als „leichtfertig“.[37]. In einer nachfolgenden Veröffentlichung reagierte Hüther auf Rothenberger gleichfalls mit einer systematischen Argumentation und konstatierte darüber hinaus:
„Auch wenn es unbequem ist und bisweilen sogar Angst macht, ohne immer neue Verunsicherungen, ohne die kritische Hinterfragung bisher für richtig gehaltener Vorstellungen, ohne die Erschütterung einmal entwickelter Überzeugungen kann sich nichts weiterentwickeln. Das gilt auch für unsere Vorstellungen über die Ursachen bestimmter Erkrankungen. Auch sie müssen offen sein, müssen sich durch neues Wissen und neue Erkenntnisse erweitern und – wenn sie allzu starr geworden sind – gelegentlich sogar erschüttern lassen. Kritische Anmerkungen zu den bisher scheinbar bewährten Vorstellungen über die neurobiologischen Ursachen von ADHD und zu den bisher bekannten Auswirkungen der Verabreichung von Psychostimulantien sollten daher nicht nur erlaubt, sondern erwünscht sein. Sie sind die Voraussetzung für das Zustandekommen eines konstruktiven Dialogs. Je offener und je sachlicher dieser Dialog geführt wird, um so besser läßt sich entscheiden, ob die bisherigen Vorstellungen ausreichen, um die beobachteten Phänomene zu erklären oder ob sie allmählich durch ein neues, ebenso vorläufiges aber passenderes Modell ersetzt werden müssen.“[38]
— Gerald Hüther
Bislang ist kein Fall bekannt, der auf ein erhöhtes Parkinson-Risiko auch nach jahrzehntelanger Methyphenidat-Behandlung hinweist (2010).[39] Die bis heute unbelegte Hypothese[40][41] wurde nach Veröffentlichung durch das gesamte Medienspektrum wiedergegeben,[42][43] was (insbesondere nach den seinerzeit erst kürzlich verhandelten, auch in Deutschland von Medien thematisierten Ritalin-Sammelklagen in den USA) eine nachhaltige öffentliche Sensibilisierung und Kontroverse gegenüber dem Thema ADHS und Methylphenidat zur Folge hatte, die nach der Meinung anderer Experten unbegründet waren.[44][45]
Hüther genießt eine für Wissenschaftler außerordentlich hohe Medienpräsenz.[46] Durch seine häufigen Auftritte in TV und Rundfunk, mit welchen er in der Bevölkerung auf große Zustimmung stößt,[47][48][49][50][51][52] erlangte er bundesweit Bekanntheit, insbesondere für seine populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen und Voträge zu den Themen Neuroplastizität sowie Schule und Lernen.
Besonders jedoch im Kontext ADHS, aber mitunter auch hinsichtlich seiner Vorschläge und Bestrebungen zur Reformation des Schulsystems, wurde Hüther von einigen Seiten vorgeworfen, dass er zu populistischen Simplifikationen neige, welche der Komplexität der jeweiligen Fragestellungen und Problemfelder nicht gerecht würden und die gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnisse und Konsense ignorierten.[53][54][55][56] So äußerte Hüther etwa, dass beispielsweise strukturgebende Maßnahmen ein hinreichener therapeutischer Ersatz für Therapiekonzepte darstellten, welche Medikamente beinhalten.[57] Insbesondere für Fälle schwerer oder schwerster hyperkinetischer Ausprägung ist eine zumindest initiale Pharmakotherapie jedoch sehr häufig Voraussetzung, um wirkungsvoll zu anderen Therapieformen übergehen zu können.[58]
Insbesondere seine im Jahr 2001 öffentlich vorgebrachte Befürchtung, Methylphenidat könne an der Enstehung Parkinson-ähnlicher Erkrankungen beteiligt sein, ging von sowohl seitens wissenschaftlicher Kollegen[59], als auch von Seiten der ADHS-Interessensverbände und -Vereine mit einer deutlich negativen Resonanz sowie auch Ablehnung einher.