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Kriminalität und ADHS

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ADHS mit komorbider hyperkinetischer Störung des Sozialverhaltens (F90.1) stellt einen Risikofaktor zur Entwicklung delinquenten Verhaltens dar

Zwar wird das Auftreten delinquenter Verhaltensweisen im Zusammenhang mit ADHS in den Medien häufig thematisiert,[1] dabei ist jedoch zu beachten, dass kriminelles Verhalten bei der einfachen ADHS (Diagnose F.90.0/ICD-10) eher selten anzutreffen ist. In den meisten Fällen treten kriminelle Handlungen bei zusätzlich vorliegenden Sekundärstörungen, wie etwa der hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens oder dissozialen Persönlichkeitsstörungen auf.[2]

Dennoch können hinsichtlich des ADHS-Symptomspektrums diverse, mögliche Prädiktoren diskutiert werden, welche zur Entwicklung kriminellen Verhaltens oder einer kriminellen Laufbahn beitragen können.

Wissenschaftliche Untersuchungen

Delinquenz im Erwachsenenalter häufiger

Eine Längsschnittstudie der Yale School of Public Health des Jahres 2009, in der unter der Leitung von Fletcher und Wolfe 10.000 Jugendliche zunächst im Kindes- und später im Erwachsenenalter untersucht wurden, kam zum Ergebnis, dass Menschen, die im Kindesalter mit ADHS diagnostiziert wurden, im Erwachsenenalter doppelt so häufig Diebstähle begehen und 50 % häufiger Drogen verkaufen.[3]

Art des Delikts variiert mit diagnostiziertem ADHS-Subtyp

Unterschiede hinsichtlich der Art der kriminellen Aktivitäten stellen die Autoren unter den Subtypen fest: Personen, welche dem vornehmlich unaufmerksamen Subtypen angehörten, begingen häufiger Verbrechen, die mit einem weniger aggressiven und ungeplanten Vorgehen verbunden sind. Stattdessen verkauften sie häufiger Drogen oder begingen vorausgeplante Einbrüche, statt beispielsweise Raubüberfälle durchzuführen. Die höchsten Verbrechensraten mit dem aggressivsten Vorgehensprofil (etwa Raubüberfälle) wiesen Betroffene mit besonders impulsivem Charakter auf. Überraschender Weise zeigten Betroffene, die mit dem kombinierten ADHS-Subtypen diagnostiziert worden waren, die geringste Neigung zu kriminellem Verhalten.

Ursachen

Bestimmte soziale Faktoren können die Entwicklung dissozialer Verhaltensweisen im Jugend- und Erwachsenenalter aus sozialisationstheoretischer Sicht begünstigen, etwa wenn in der früheren Kindheit bereits Störungen des Sozialverhaltens aufgetreten sind.[4]

Insbesondere psychosoziale Wirkfaktoren und Milieubedingungen, wie häusliche körperliche und emotionale Gewalt und (sexueller) Missbrauch, ein aversiver Erziehungsstil,[5] erzieherische und emotionale Vernachlässigung bzw. Deprivation, beengte Wohnverhältnisse, anhaltende Mobbing-Erfahrungen in Peer-Group oder Schule, wiederholte schmerzliche Versagenserfahrungen, soziale Ausgrenzungen etc. korrelieren erheblich mit der Entwicklung von Deliquenz, aber auch anderen Maladaptationen, die ihrerseits ebenfalls wechselseitig zur Entwicklung und Konsolidierung der delinquenten Tendenzen beitragen.

Risikofaktoren

Ein beträchtlicher Anteil ADHS-Betroffener bleibt ohne Berufsausbildung oder akademischen Abschluss, obwohl die kognitiven Voraussetzungen vorhanden wären. Diese Diskrepanzerfahrung vermittelt den Betroffenen das Gefühl, gescheitert zu sein, versagt zu haben und gesellschaftlich benachteiligt oder ausgeschlossen zu sein und kann eine Entwicklung delinquenten Verhaltens begünstigen. Hierbei spielen jedoch weitere Faktoren eine Rolle, beispielsweise ob soziale Ressourcen vorhanden sind, die den Betroffenen auffangen können.

Hinsichtlich der typischen ADHS-Symptomatik werden diverse Prädiktoren deutlich, welche die Entwicklung von Kriminalität begünstigen können. Dabei spielt in der Hypothese vor allem die Konstellation aus der gering ausgebildeten Frustrationstoleranz, den verminderten Fähigkeiten zur Impulshemmung sowie dem verminderten Selbstwertgefühl bzw. dem gestörten Selbstkonzept eine Rolle. Vor allem eine unbehandelte ADHS prädestiniert häufig zu Biographien, welche deutlich werden lassen, dass die Betroffenen erheblich unter ihren Potenzialen bleiben und nicht die Lebensziele erreichen, die angesichts der vorhandenen Potenziale denkbar, und ohne die ADHS-bedingten Schwierigkeiten wohl zu realisieren wären. Beispielsweise bleibt ein beträchtlicher Anteil ADHS-Betroffener ohne Berufsausbildung oder akademischen Abschluss. Diese deutliche Diskrepanz vermittelt den Betroffenen das Gefühl, gescheitert zu sein, versagt zu haben und gesellschaftlich benachteiligt oder ausgeschlossen zu sein.

Die Entwicklung kriminellen Verhaltens kann hier als maladaptiver Kompensationsversuch gewertet werden, der aus einer subjektiven Perspektivlosigkeit heraus erfolgt. So erlangen die Delinquenten beispielsweise über den Handel mit illegalen Substanzen und die mit diesem verbundenen sozialen Ressourcen gegebenenfalls die lang verwehrten und ersehnten Gefühle von Erfolg, Anerkennung, Gruppenzugehörigkeit und Wohlstand, an deren Erlangung sie auf konventionellem Wege zuvor gescheitert waren. Die gesellschaftlich abgelehnten Attributionen, welche mit Kriminalität in Verbindung stehen, werden insbesondere durch die soziale Verstärkung der Peergroup gegebenenfalls einem selbstwertdienlichen Reframing unterzogen und bilden eine als (überlebens-) wichtig empfundene Identifikationsgrundlage für den Delinquenten, welche die kriminellen Bestrebungen weiter konsolidieren. Ferner stellen Faktoren wie drohende oder bereits eingesetzte Armut, dauerhafte Arbeitslosigkeit und die mit dieser verbundene Frustration[6] sowie finanzieller und sozialer Druck (ausgehend von der hohen Quote verschuldeter ADHS-Betroffener) ebenso initiale oder verstärkende Faktoren dar, die zu einem Abrutschen auf eine kriminelle Laufbahn führen können.

Darüber hinaus können auch Stigmawirkungen zum delinquenten Selbstbild beitragen. Wiederholte Zuschreibungen im Kontext mit Delinquenz können unter bestimmten Bedingungen zu einer Internalisierung und Adaption der entsprechenden Rollenbildern führen. Weitere Ausführungen dazu findet man im Artikel Stigmatisierung und ADHS.

Weiterhin scheinen auch geringe kognitive Ressourcen, insbesondere ein nierdriger Verbal-IQ, eine Entwicklung delinquenten Verhaltens weiter zu begünstigen.

Substanzmissbrauch

ADHS-Betroffene sind im besonderen Maße gefährdet, Substanzabhängigkeiten zu entwickeln. Dabei ist nicht immer klar, ob es sich vordergründig um ein risikobereits impulsives Ausprobieren handelt oder um ein Motiv der sogenannten „Selbstmedikation“. Der häufig komorbide Drogenkonsum sowie das mit diesem verbundene soziale Milieu stellt ein großes Problem gegenüber den Resozialisierungsbestrebungen des Strafvollzugs dar.[7]

Strafrechtliche Begutachtung

Die Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortungsfähigkeit orientiert sich am psychopathologischen Gesamtbild, wobei die bei ADHS häufig auftretenden Komorbiditäten zu berücksichtigen sind. Bei ADHS stehen nur in den seltensten Fällen Störungen bei der Einsicht von Unrecht zur Diskussion. Straftaten gehen vornehmlich aus der bei ADHS verminderten Steuerungsfähigkeit hervor. Bei der strafrechtlichen Begutachtung sollte insofern der Fokus auf einen möglichen Zusammenhang zwischen der Deliktstruktur und der ADHS-Symptomatik gelegt werden, um zu klären, ob unter Einbeziehung der Symptomatik die Vorraussetzungen von § 21 StGB (verminderte Schuldfähigkeit) gegeben sind.

Vor diesem Hintergrund ist es vor allem wichtig, dass differenzialdiagnostisch zwischen ADHS und der dissozialen Persönlichkeitsstörung differenziert wird. Für die strafrechtliche Prognosebegutachtung hat diese Abgrenzung eine entscheidende Bedeutung. Das wesentliche Entscheidungsmerkmal scheint hier die Empathie zu sein. Während dissoziale Delinquenten ihr persönliches Scheitern externalisieren, also die Gründe nicht bei sich selbst suchen, sind ADHS-Betroffene eher bemüht, Ursachen und Auswege in und aus dem eigenen, negativen Verhalten zu finden und sind eher zur Selbstreflexion zu bewegen[8]

ADHS-Präzedenzfälle und Gerichtsurteile

Die nachfolgenden Beispiele machen die unterschiedliche Rechtsauffassung und Rechtsprechung hinsichtlich ADHS als Kriterium für die tatbezogene Schuldfähigkeit deutlich:[9]

Jahr, Ort Tatvorwurf Urteil
1992, Colorado (USA) Mord Der Verteidiger des Beschuldigten plädierte auf Schuldunfähigkeit aufgrund einer diagnostizierten MCD. Der Mandant weise eine deutlich verminderte Steuerungsfähigkeit auf und sei schwer in der Lage, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. Das Gericht erkannte die Argumentation an.
1999, Schottland Körperverletzung, Diebstähle, Vandalismus Die Berufung wurde zurückgewiesen, da nach dem Urteil des Gerichts ADHS die Steuerungsfähigkeit nicht mindere. Der Täter wurde zu zehn Monaten Haft verurteilt.
1994, Illinois (USA) Mord Der Beschuldigte, welcher mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung und ADHS diagnostiziert war, wurde wegen Mordes unter Einfluss von Alkohol und Marijuana zu lebenslanger Haft verurteilt.
1992, k.A. Drogenhandel Der 13-jährige Beschuldigte wurde wegen Kokainhandels zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Nach Ansicht des Gerichts bestehe aufgrund der ADHS eine größere Gefährlichkeit und daher eine schlechtere Prognose.

Im März 2016 war es in Deutschland im Rahmen einer Anklage wegen Anbaus und Besitzes von einem Kilogramm Cannabis zu einem Freispruch gekommen.[10] Der Angeklagte, welcher aufgrund seiner ADHS-Diagnostik und einer Schmerzproblematik angab, das Cannabis für den eigenen Bedarf zu medizinisch-therapeutischen Zwecken zu benötigen, wurde vom Gericht freigesprochen.

ADHS und Strafvollzug

Expertenschätzungen gehen von einer ADHS-Quote von 30 % - 50 % in deutschen Jugendstrafanstalten und bis zu 30 % unter den erwachsenen Inhaftierten aus.[11] Studien zeigen, dass sich inhaftierte mit ADHS im Vollzug häufig negativer entwickeln und häufiger rückfällig werden[12]. Eine Behandlung in Gefangenschaft gestaltet sich diffizil, eine abgesicherte Diagnostik ist schwierig durchzuführen. Im Strafvollzug fehlt zudem neben der Möglichkeit einer Durchführung evaluierter Behandlungsprogramme die Unterstützung des sozialen Umfelds. Insgesamt sind die Resozialisierungsmaßnahmen für ADHS-Betroffene in der Praxis momentan mangelhaft, sodass die Entwicklungsprognose für die Betroffenen in der Regel negativ ist.

Behandlungskonzept in Haft

Denise Mccallon entwickelte im Jahr 2000 ein spezialisiertes, multimodales Behandlungskonzept für ADHS-Betroffene im Strafvollzug. Dabei arbeiten Therapeut und Co-Therapeut in einer offenen Behandlungsgruppe in wöchentlichen Gruppensitzungen über 6-24 Monate. Die Gruppe setzt sich aus 15-20 diagnostizierten Teilnehmern zusammen. Grundlage des Konzepts bildet immer die vorangegangene ADHS-Diagnostik. Wichtigste Bestandteile des multimodalen Behandlungskonzepts stellen die eingehende Psychoedukation, Konsiliartreffen sowie evtl. Medikation dar.

Auf die gesellschaftliche Wiedereingliederung abzielend, werden diverse, obligatorische Verhaltenstrainings, etwa zur Verbesserung von Selbstwahrnehmung und -Regulation, durchgeführt. Nach Entlassung wird das soziale Umfeld nach Möglichkeit einbezogen. Die Nachsorge kann bis zu zwei Jahre andauern.

Prävention von Kinder- und Jugendkriminalität

Zur Vorbeugung einer Entwicklung eines delinquenten Persönlichkeitsprofils im Kinder und Jugendalter (bis 14 Jahre) existieren deutschlandweit Präventionsprogramme, wie beispielsweise die Initiative Kurve kriegen, welche von der Polizei Nordrhein-Westfalen angeboten wird.[13] Dabei soll einem Abrutschen in eine kriminelle Laufbahn frühzeitig entgegengewirkt werden, „indem man die frühen Signale, die auf eine anhaltende kriminelle Laufbahn schließen lassen, richtig deutet und konsequent reagiert“. Das fakultative Programm zielt auf Kinder und Jugendliche bis 14 Jahren ab (mit dem 14. Lebensjahr erfolgt der Eintritt der Strafmündigkeit), die innerhalb eines bestimmten Zeitraums bereits mehrfach polizeilich in Erscheinung getreten sind und soll mit Hilfe individueller Bedarfsprofile unter Einbeziehung der Eltern und mit Unterstützung speziell geschulter Pädagogen und gegebenenfalls auch ADHS-kompetenten Psychologen die Zahl der von Kindern und Jugendlichen begangenen Straftaten verringern.

Trivia

  • Eine häufig diskutierte Frage hinsichtlich delinquenten Verhaltens und ADHS ist ein möglicher Zusammenhang mit der in der Praxis häufig beobachteten Neigung zur sogenannten Reizsuche (sensation seeking, thrill seeking).[14][15]

Studien

Deutsch

Englisch

Weblinks

Siehe auch

Weitere interessante Artikel

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Einzelnachweise