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Hypoaktivität

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Helga Simchens Werk zur Hypoaktivität (8. Auflage, 2012).

Als hypoaktiv (von griechisch ὑπό (hypo) → grc „unter“; unteraktiv) bezeichnet Helga Simchen den vorwiegend unaufmerksamen ADHS-Subtypen. Der Begriff ist in der Wissenschaft nicht etabliert und findet eher in der Selbsthilfeliteratur Anwendung.

Symptome

Kinder und Jugendliche

Die ADHS-Diagnose wird bestenfalls vor der Einschulung des Kindes gestellt, um mit der rechtzeitigen Behandlung den oft schon früh auftretenden Versagenserfahrungen entgegenzuwirken, die die weitere Schullaufbahn erheblich erschweren können.

Nach Simchen fallen hypoaktive Kinder und Jugendliche in der Schule besonders durch ihre vergleichsweise langsame Arbeitsweise auf, werden jedoch aufgrund ihrer Zurückhaltung selten durch Unterrichtsstörungen auffällig.[1] Neben den zumeist ausgeprägten Konzentrationsschwierigkeiten zeigen sich außerdem gelegentlich Störungen in der Feinmotorik sowie verzögerte Reaktionen auf äußere Reize. Teilleistungsstörungen wie Dyskalkulie oder Lese-/Rechtschreibschwäche sind unter den Komorbiditäten häufig. Während bei hypoaktiven Mädchen eher die (internalisierenden) Verhaltensstörungen dominieren, fallen die Jungen im schulischen Kontext vornehmlich durch Teilleistungsstörungen auf[2]. Es fällt den betroffenen Kindern und Jugendlichen meist sehr schwer, Ordnung zu halten und vorauszuplanen, was im häuslichen Kontext besonders zu zusätzlichen Problemen bei den Hausaufgaben und beim Lernen führt. Die anhaltende Unordnung im Kinderzimmer belastet die Kinder und Jugendlichen meist sehr, wobei sie häufig nicht allein in der Lage sind, der Unordnung Herr zu werden und beim Aufräumen die Struktur und die Hilfe der Eltern benötigen.

Auch aufgrund der über den Tag oft wechselnden Stimmungsmodi sind Spontanhandlungen häufig. Den Eltern fällt es dann oftmals ebenfalls nicht leicht, sich auf die spontan wechselnden Motivations- und Stimmungszustände einzustellen und entsprechend vorauszuplanen.

Weiter weist Simchen darauf hin, dass hypoaktive Kinder auch im Schulalter gelegentlich noch einnässen und einkoten, wobei Simchen hier neurobiologische wie psychische Ursachen vermutet. Psychotherapie sowie Toilettentraining können dabei zur Besserung verhelfen.

Ferner sei bei hypoaktiven Kindern und Jugendlichen oftmals eine besonders ausgeprägte Fantasie und Kreativität zu beobachten, die in Zusammenhang mit divergenten Denkstrukturen stehen können (siehe auch: Stärken). Die oftmals unstrukturierten Denkmuster können allerdings zu Konflikten und Missverständnissen führen. Auch sind sie meist besonders vergesslich, leicht reizbar und fühlen sich oftmals ungeliebt und missverstanden, obwohl objektiv keine nachvollziehbaren Gründe vorzuliegen scheinen. Oft ziehen sie sich zurück und beschäftigen sich alleine[3]. Besonders gering ausgeprägt ist oftmals die Frustrationstoleranz mit vorzeitiger Resignation in der Folge. Hypoaktive Kinder und Jugendliche neigen besonders schnell zur Resignation und weisen oftmals externale Kontrollüberzeugungen auf. Sie glauben dann, dass ihre persönlichen Einflussmöglichkeiten, etwa zur Abwendung negativer Ereignisse, stark begrenzt oder ohne Effekte sind, was sich sehr negativ und nachhaltig auf ihre schulischen Leistungen auswirken kann. Auch hier sind symptomatische Überschneidungen mit Depressionen möglich. Die Symptome der Hypoaktivität bleibten oft bis ins Erwachsenenalter erhalten.

Erwachsene

Das Symptomspektrum des hypoaktiven Erwachsenen ähnelt dem von Kindern und Jugendlichen, sofern im Kindes- und Jugendalter keine therapeutischen Maßnahmen durchgeführt worden sind oder diese nicht den gewünschten Erfolg erzielen konnten.

Betroffene Erwachsene ziehen sich häufiger zurück oder sind sozial isoliert. Häufig haben die Betroffenen Angst- und Schuldgefühle und es fällt ihnen schwer, diese für andere kohärent zu verbalisieren und / oder zu begründen. In manchen Fällen neigen Hypoaktive dazu, die von ihnen als nachteilhaft empfundene Schüchternheit durch überkompensatorisch bestimmendes Auftreten zu überspielen, was im Umfeld falsche Erwartungen erzeugt und ihre Situation zumeist weiter negativ beeinflusst, da ihr Selbstwertgefühl meist ohnehin brüchig ist. In diesem Zusammenhang sollte auch Ziel der Therapie sein, solche maladaptiven Coping-Strategien durch unschädliches Kompensationsverhalten zu ersetzen. Tendenzen zu maladaptiven Kausalattributionen sind häufig. Die Betroffenen neigen dann beispielsweise dazu, erlebte Erfolge nicht ihren eigenen Anstrengungen und Leistungen zuzuordnen, sondern zum Beispiel auf glückliche äußere Umstände zurückzuführen.

Auch bei Erwachsenen sind Angststörungen häufiger. Spontane und häufige Stimmungswechsel, die aus dem nichts und scheinbar ohne den Einfluss äußerer Umstände einzusetzen scheinen, prädestinieren zu Auseinandersetzungen und Missverständnissen in allen sozialen Bereichen. Die scheinbar schüchterne Zurückhaltung kann sich unmittelbar zur heftigen Aggression und Angriffslustigkeit wandeln, wobei die Betroffenen im Anschluss erheblich mehr Zeit benötigen, um zur Ruhe zu kommen.

Wesentliches Kennzeichen im klinischen Bild ist im Weiteren eine starke Müdigkeit mit vorzeitiger Erschöpfung, oftmals einhergehend mit ausgeprägter Antriebshemmung. Kleine Tätigkeiten werden dabei zuweilen als unmöglich zu bewältigend empfunden. Eine mangelhafte oder nicht vorhandene Haushaltsorganisation ist häufig die Folge, wobei die Betroffenen unter den chaotischen Zuständen sehr leiden. Die anhaltende häusliche Unordnung führt in manchen Fällen bis zur sozialen Isolation, da sich die Betroffenen für ihre Unordentlichkeit schämen und Besuche vermeiden wollen. Dem gegenüber ist zu beobachten, dass angekündigte Besuche in anderen Fällen regelrecht zum Aufräumen treiben, jedoch meist nur unter erheblichem Zeitdruck (siehe auch: Prokrastination). Häufig erleben die Betroffenen schon am Nachmittag eine starke Müdigkeit und ein Schlafbedürfnis, dem sie nachgehen müssen. Gesetzte Ziele können somit oftmals erst nach einiger Verzögerung erreicht werden oder werden aufgrund des entstandenen Zeitmangels aufgegeben.

In sexuellen Bereichen können sich aufgrund der häufiger mit der Hypoaktivität auftretenden taktilen Überempfindlichkeit partnerschaftliche Probleme entwickeln. Gut gemeinte Zärtlichkeiten können von den Betroffenen als belastend empfunden werden. Dies ist für ihre Partner nicht immer nachzuvollziehen. Zu beobachten ist jedoch, dass die Reizempfindlichkeit auch analog zur ADHS-Symptomatik Schwankungen unterliegen kann.

Hypoaktive Erwachsene sind meist sehr um die Schaffung eines besonders toleranten Umfeldes bemüht, in dem sie sich akzeptiert und geliebt fühlen, wie sie sind. Bei der Berufswahl wird ein Tätigkeitsumfeld vorgezogen, in dem soziale Interaktionen nicht zwingend dauerhaft notwendig sind. Besonders beliebt sind Tätigkeiten, die ein Maß an Kreativität voraussetzen. So finden sich viele Hypoaktive in künstlerischen, beratenden oder gestalterischen Berufen gut zurecht, bei denen sie von dritten Personen angeleitet werden. Hypoaktive können im Besonderen profitieren, wenn es ihnen gelingt, im beruflichen Alltag zu hyperfokussieren

Ähnliche Krankheits- und Störungsbilder

Differenzialdiagnostisch ausgeschlossen werden sollten stets auch symptomatisch überlappende Störungsbilder. Diese können jedoch auch gemeinsam mit der ADHS auftreten. Fehldiagnosen der ADHS kommen gemäß einer Studie der Ruhr-Universität Bochum aus dem Jahr 2012 zunehmend häufiger vor.[4] Abzugrenzen sind im Besonderen:

  • Intellektuelle Minderbegabung
  • emotional instabile Persönlichkeitsstörungen
  • Folgen einer Schädigungen in der Schwangerschaft, unter der Geburt oder durch Frühgeburt
  • chromosomale Schäden (Fragiles X-Syndrom)
  • Folge verwöhnender Erziehung mit wenig Anstrengungsbereitschaft und erlernter Hilflosigkeit
  • Funktionsstörungen der Schilddrüse (Unterfunktion)
  • Angststörungen und depressive Erkrankungen
  • posttraumatische Störungen (organisch als auch psychisch bedingt, Verwechslungen mit ADHS häufig[5])
  • Zustand nach schweren Gehirninfektionen
  • Epilepsiebedingte Anfallsformen (Absencen)
  • Trennungsproblematik mit schweren familiären Konflikten.

Depression

Differenzialdiagnostisch besonders zu berücksichtigen ist vor dem Hintergrund der oftmals stark auftretenden Lethargie, Zurückgezogenheit und Ängsten auch die Abgrenzung von einer (endogenen) Depression als primärer Kausalfaktor für die scheinbare ADHS-Problematik. Bei der depressiven Symptomatik zeigen sich die Grenzen zwischen der typisch-hypoaktiven und der typisch-depressiven Symptomatik aufgrund vieler Überlappungen besonders fließend und schwierig zu bestimmend.

Eine Depression kann aber auch komorbid zur ADHS vorliegen und gegebenenfalls für lange Zeit unerkannt bleiben.

Behandlung und Therapie

Leitliniengemäß stellt die multimodale ADHS-Therapie eine erfolgsversprechende Möglichkeit der Therapie dar.

Da die Betroffenen häufig bereits eine Vielzahl selbstwertmindernder Erfahrungen gemacht haben, ist ihr Selbstvertrauen oftmals schwach ausgebildet. Sie benötigen daher stabile und konsistente Vertrauensverhältnisse zu anderen Menschen, die sie so akzeptieren, wie sie sind.

Im Rahmen der multimodalen Therapie kommt der eingehenden Psychoedukation des näheren sozialen Umfelds ein hoher Stellenwert zu, da insbesondere bei der hypoaktiven Variante der ADHS die Gefahr besteht, dass sich die Schwierigkeiten sukzessiv und unbemerkt zuspitzen. Zum aufzuklärenden Umfeld gehören auch die betreuenden Lehrkräfte an den Schulen.

Die Vermittlung von Struktur und Selbstorganisation spielt im schulischen Umfeld eine genauso zentrale Rolle wie der systematische Abbau von (Schul-)Ängsten und Selbstzweifeln. Ein konsequenter, aber verständnisvoller Erziehungsstil seitens der Eltern, aber auch seitens der Pädagogen, wird dabei empfohlen (siehe auch: ADHS und Schule).

Ähnlich wie bei der ADHS mit Hyperaktivität sind die Ziele bei der Verbesserung der hypoaktiven Variante, die Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie die Fähigkeiten zur Selbstreflexion zu verbessern. Da sich Hypoaktivität zwar vor allem durch Zurückhaltung und Schüchternheit auszeichnet, andererseits aber auch impulsive und aggressive Episoden auftreten können, gehört das Erlernen von Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung ebenso zum Konzept, wie das Erreichen eines Kontrollbewusstseins, das den Betroffenen häufig fehlt.

Der Einsatz von Medikamenten stellt eine wichtige therapeutische Option dar. Psychopharmaka werden bei schwerer und schwerster Ausprägung empfohlen und können sich gelegentlich – das heißt, in schweren Fällen – als unverzichtbar herausstellen.

Verhaltenstrainings und Coachings durch Experten, welche die Betroffenen immer wieder von neuem antreiben, können empfohlen werden. Häufig fallen hypoaktive Kinder und Jugendliche nach kurzer Zeit wieder in alte Verhaltensmuster und Lethargien zurück, wenn diese Neigung nicht durch eine Vertrauensperson abgefangen wird.

Non-Responder

Eine Studie von Barkley et al. weist darauf hin, dass sich unter den betroffenen des vorwiegend unaufmerksamen Subtyps vergleichsweise häufiger Methylphenidat-Non-Responder befinden[6].

Kritik

Für das DSM-IV wurde im Jahr 1994 entschieden, das Konzept der obligaten Hyperaktivität nicht mehr zu übernehmen, sodass ab DSM-IV in der Folge zwischen den drei Untergruppen der ADHS – darunter auch der hypoaktive Subtyp – unterschieden werden sollte. Vereinzelt sind Kritiker der Meinung, dass die Aufspaltung Untergruppen mit neuen Symptomkriterien möglicherweise der Ausweitung von ADHS-Diagnosen dienen sollte, um den Absatz von ADHS-Therapien (insbesondere Medikamente) voranzutreiben.

Mit dem Artikel in Zusammenhang stehende Personen

Siehe auch

Studien und wissenschaftliche Publikationen

Literatur

  • Die vielen Gesichter des ADS; Begleit- und Folgeerkrankungen richtig erkennen und behandeln, Helga Simchen, Kohlhammer Verlag, 2007
  • Verunsichert, ängstlich, aggressiv - Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen - Ursachen und Folgen, Helga Simchen, Kohlhammer Verlag, 2007
  • ADS - Unkonzentriert, verträumt, zu langsam und viele Fehler im Diktat. Hilfen für das hypoaktive Kind - Helga Simchen, Kohlhammer Verlag, 2007
  • Kapitel: Der Unterschied zwischen der ADHS und der ADS; In: Das große ADHS-Handbuch für Eltern, Russell Barkley, Huber Verlag, Bern 2011, S. 209f.

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Einzelnachweise