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Stigmatisierung und ADHS

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Unter Stigmatisierung (von Stigma, griechisch στíγμα für Stich, Wundmal) wird ein sozialer Prozess verstanden, bei dem Individuen ein anderes Individuum, oder ein Gruppe anderer Individuen, aufgrund von Andersheiten, unerwünschtem Verhalten oder anderen abweichenden Merkmalen negativ bewerten oder diskriminieren.

ADHS-Betroffene sind häufig Opfer sozialer Stigmata. Einerseits ist ADHS, als psychiatrische Störung, oftmals mit negativen Attributionen verbunden; andererseits werden Betroffene aufgrund der gesellschaftlichen Vorurteile gegenüber der Störung mit ihren Schwierigkeiten häufiger nicht erstgenommen.

Begriffsherkunft

Ein Kind vor einer Schultafel trägt zur Strafe eine sogenannte Eselskappe.

Der Begriff Stigma leitet sich aus dem griechischen Begriff στίγμα für 'Stich, Brandmal, Malzeichen, Kennzeichen' ab. Es verweist auf die teils bis heute bestehende Praxis des Beifügens von sichtbaren Verletzungen zum Zweck der Bestrafung durch öffentliche Demütigung und Ächtung. Speziell wird der Begriff auch zur Bezeichnung der Verletzungen am Körper Jesus von Nazareths nach dessen Kreuzigung verwendet.

Vorrangig liegt die Bedeutung des Begriffs heute jedoch in der Bedeutung von "etwas, wodurch etwas oder jemand deutlich sichtbar in einer bestimmten, meist negativen Weise gekennzeichnet ist und sich dadurch von anderem unterscheidet"[1]. Dabei kann es sich um physische Zeichen handeln, aber auch um häufig abwertende Bezeichnungen und Zuschreibungen für Vorlieben oder Verhaltensweisen.

So wurden etwa bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Schülerinnen und Schüler zur Strafe gezwungen, sogenannte Eselskappen zu tragen, um unter Strafe stehendes Verhalten (schlechte Leistung, störendes Verhalten, Abweichungen) vor der Gruppe mit einem Stigma zu belegen.[2]

Stigmatisierung in der Gesellschaft

Soziologe Erving Goffman *11. Juni 1922; † 19. November 1982

Der Begriff des sozialen Stigmas wurde maßgeblich vom kanadischen Soziologen Erving Goffman geprägt, der drei Kriterien definierte, von denen mindestens eines zur Stigmabildung eines Menschen erfüllt sein müsse:[3]

  • Abscheulichkeiten des Körpers (z.B. körperliche Behinderungen, Missbildungen, Krankheit)
  • Individuelle Charakterfehler (z.B. Sucht, Aggressivität, Homosexualität)
  • Phylogenetische Merkmale (z.B. Nation, Religion)

Goffmann vermutet, dass Stigmatisierungsprozesse, als Reaktion auf nicht erfüllte Normerwartungen, eine die Gesellschaft stabilisierende Funktion haben. So werde die Ein- und Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Übereinkünfte erst durch das Schaffen eines erstrebenswerten gesellschaftlichen Status, der mit einem Stigmatisiertenstatus kontrastiert, erreicht.[4] Dabei postuliert Hohmeier, dass Stigmata der Orientierung in und der Berechenbarkeit von sozialen Interaktionen dienen. So werden Erwartungen und Vermutungen bezüglich des Verhaltens des Interaktionspartners angestellt, die das eigene Verhalten der Person gegenüber beeinflussen und die Situation vorstrukturieren.[5]

Cloerkes stellt die wirtschaftlichen Aspekte bei Stigmatisierungsprozessen heraus. So regeln Stigmata den Umgang zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und den Zugang zu knappen Gütern wie Status, Berufschancen etc. und dienen somit der Systemstabilisierung. Des weiteren regulieren Stigmata Macht- und Herrschaftsverhältnisse zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen.[6]

Stigmatisierungen können auf der Grundlage einer jeden erdenklichen Andersartigkeit bzw. Normabweichung entstehen, vorausgesetzt, das abweichende Merkmal ist gesellschaftlich nicht erwünscht.

Beispiele sozialer Stigmata

Beispielhaft für soziale Stigmata können die sexuelle Orientierung, Nationalität, Religion, Obdachlosigkeit, soziale Herkunft, körperliche oder geistige Behinderungen oder auch Krankheiten und psychische Störungen, darunter auch ADHS, sein.

Sichtbar werden können stigmatisierte Merkmale auf eher subtile oder offensichtliche Weise. So kann eine bestimmte Sprechweise (bspw. sprechen mit Dialekt oder Akzent) auf eine bestimmte soziale Herkunft schließen lassen. Eine Wohngegend, die verstärkt von sozialem Wohnungsbau betroffen ist, impliziert die Arbeitslosigkeit der Bewohner. Hier ist zu erwähnen, dass auch bereits Armut zum sozialen Stigma wird, wenn sie als mangelnde Leistungsbereitschaft attribuiert wird und mögliche äußere Umstände, die zu der Benachteiligung geführt haben, nicht hinterfragt oder gar ignoriert werden ("Gerecht-Welt-Glaube")[7]. Ein ähnliches Schema findet sich gelegentlich auch bei ADHS wieder, wenn der mit der Störung einhergehende Leidensdruck vom Umfeld invalidiert oder nicht ernstgenommen wird.

Kleidung gilt als eines der sichtbarsten Merkmale, die unter Jugendlichen wie auch Erwachsenen zur Stigmabildung beitragen kann, da die volle Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe häufig von äußeren Merkmalen, wie der Kleidung, maßgeblich mitbestimmt wird.

In Gruppen von Erwachsenen ist das für eine Gruppenzugehörigkeit vorausgesetzte Netz jedoch noch deutlich feinmaschiger, als bei jugendlichen Peergroups. Hier spielen weitere Schlüsselfaktoren wie sozioökonomischer Status, ein damit verbundener Beruf, Freizeitgestaltung, bestimmte gesellschaftliche Rituale, Bildungshintergründe und weitere äußere Faktoren eine Rolle, durch die das Erwachsene Individuum charakterisiert wird. Die Stigmatisierung unter Erwachsenen wird somit dann deutlich sichtbar, wenn der Umgang mit einer Person nach dem Wegfall eines wichtigen Schlüsselfaktors fortan von der Gruppe gemieden wird.

Stigmatisierung und ADHS

Bewertung

Psychische Störungen wie ADHS können als soziale Stigmata wirken. Nicht nur das syndrombedingte abweichende Verhalten, auch bereits das mit der Diagnose verbundene, oftmals negativ attribuierte Label kann zu Ablehnung und zum sozialen Ausschluss führen.

ADHS ist als psychische Störung anerkannt und klassifiziert.[8] Die vor allem bei Schwerbetroffenen eingesetzte Pharmakotherapie ist vor allem in Verbindung mit dem Präparat Ritalin im kollektiven Bewusstsein präsent. Insbesondere zur Jahrtausendwende wurde das Methylphenidat-haltige Ritalin kontrovers diskutiert, nachdem in den USA fünf Sammelklagen gegen den Hersteller Novartis eingereicht wurden. Diese hatten ein weltweites, kontroverses Medienecho zum Thema ADHS zur Folge. Die undifferenzierte Einstufung von Ritalin als "gefährliche Droge" auf Seite der Kläger [9] hat sich bis in die Gegenwart gehalten[10] und kann Eltern schwer- und schwerstbetroffener Kinder die Entscheidung über eine Medikation, aber auch über eine zu veranlassende Diagnostik, aus der Befürchtung, sozial geächtet, ausgeschlossen oder nicht ernstgenommen zu werden, zusätzlich erschweren; betroffene Erwachsene mit größerem Leidensdruck sind gegenüber der Medikamenteneinnahme eher zum Zögern veranlasst, wenn sie glauben, dass die Einnahme des von den Klägern als "gefährliche Droge" bezeichneten Ritalins ihre Gesundheit gefährden könnte.

Bereits vor diesen Hintergründen besteht die Gefahr von Stigmatisierungsprozessen. Zusätzlich wirken jedoch auch die generellen Klischees, die zur Ausgrenzung psychisch Kranker führen, da diese auch ADHS betreffen. Die Laienvorstellungen psychischer Erkrankungen sind durch Attribute wie "merkwürdiges Erscheinungsbild und Verhalten", "Denkstörungen", "Kriminalität", "Unberechenbarkeit", "Aggressivität" oder "eingeschränkte soziale Funktionsfähigkeit" geprägt. Das Betroffenenbild wird häufig als "nicht normal" und von der Norm abweichend wahrgenommen, obwohl diese dimensionalen Merkmale bei ADHS einerseits eher selten so deutlich imponieren, und andererseits nicht notwendigerweise zutreffend sind, da ADHS kein homogenes Störungsbild ist. Die Symptome und deren Ausprägung sowie begleitende Komorbiditäten (das klinische Bild) können phänotypisch und in ihrer Ausprägung sehr unterschiedlich sein.[11]

Folgen

Eine Stigmatisierung eines ADHS-Betroffenen kommt somit bereits in der Gestalt verbreiteter Klischees in Frage, auch wenn der Betroffene als Person gar nicht bekannt ist. So kann auch sämtliches Verhalten sowie die Biographie des Stigmatisierten reduktionistisch mit dem Stigma (ADHS) begründet werden, ohne dass andere biographische Wirkfaktoren bei der Ausbildung von bspw. negativen Charaktermerkmalen mitberücksichtigt werden. Auch besteht die Gefahr, dass bestimmte hervorstechende Charaktermerkmale nicht mehr als solche, sondern vielmehr als störungsbedingt „ADHS-typisch“ wahrgenommen werden, was Identitätskonflikte auf Seite des Betroffenen implizieren kann. Hier spielt zur Vorbeugung auch die in den Behandlungsleitlinien empfohlene Psychoedukation eine Rolle, bei der neben dem Betroffenen mindestens auch das nähere Umfeld (sowie ggf. der Klassenlehrer der Schule) möglichst umfassend und spezifisch über die individuelle ADHS-Problematik des Betroffenen aufgeklärt werden sollte.

Gleichwohl bergen auch die weit verbreiteten Zweifel gegenüber der Diagnosevalidität von ADHS sowie ihr Ruf als inflationierende Diagnose die Gefahr von Stigmatisierungen, da so die Gefahr besteht, dass der Leidensdruck, der mit ADHS einhergehen kann, nicht ernstgenommen wird und Kinder und Jugendliche durch eine frühzeitige Behandlung vor den nachgewiesenen Spätfolgen[12][13][14][15] einer unbehandelten ADHS nicht bewahrt werden. Auch Erwachsene, die unter einer ADHS-Symptomatik leiden und ihren Eigenverdacht aufgrund der genannten Vorbehalte nicht ernstnehmen - und sich in der Folge keiner klärenden Diagnostik unterziehen - können so gegebenenfalls nicht von einer Behandlung profitieren.

In vielen Fällen geht der ADHS-Diagnose bereits eine lange Leidensgeschichte voraus, die ebenfalls mit Stigmatisierungen verbunden war, deren Ursache ihrerseits möglicherweise in der ADHS-Symptomatik liegt. Hier sollte gemeinsam mit den zuständigen Therapeuten und Ärzten abgewägt werden, ob eine Diagnose mit anschließender Therapie Sinn macht und erfolgsversprechend ist.

ADHS-Diagnose: Gegenüberstellung von Diagnosenutzen und Stigmatisierung

Russell Barkley im Jahr 2006

Mit der Diagnose ADHS kann - vor dem Hintergrund der ADHS als psychische Störung mit entsprechenden Implikationen für den Gelabelten - eine Stigmawirkung einhergehen.[16] Russell Barkley weist auf die Ambivalenz der ADHS-Diagnose hin, betont aber, dass die Vorteile einer korrekt gestellten Diagnose überwiegen: Ettikettierungen bergen zwar grundsätzlich immer die Gefahr von Stigmatisierungen, die Identifizierung der vielfältigen mit ADHS einhergehenden Schwierigkeiten habe jedoch den Vorteil, dass sich Betroffene der Ursache und der Beschaffenheit ihrer Probleme bewusst werden und sich somit eher Hilfe suchen können.[17] Der US-amerikanische Psychologe Harvey Parker ergänzt dazu (übersetzt aus dem Englischen):

„Wir sollten glücklich darüber sein, dass die Schulen im ganzen Land begonnen haben, auf Schülerinnen und Schüler mit ADHS aufmerksam zu werden und ihre Probleme ernstzunehmen, und dass wir wirksame Therapien anbieten können. Wir sollten glücklich darüber sein, dass die Allgemeinheit betroffene Kinder und Jugendliche nicht mehr als 'freche und böse Kinder' wahrnimmt, sondern als junge Menschen mit Problemen, die sie lösen können und auch gern lösen wollen!“.

—Harvey Parker

Auch Brandau, Schmela und Spitczok von Brisinski schlussfolgern, dass die Diagnostestellung ADHS nicht zwangsläufig in einen negativen Prozess von Etikettierung und Stigmatisierung münden muss. Je nach Kontext kann die Diagnose auch entschuldend, erklärend und intrafamiliär konfliktlösend und damit stressreduzierend wirken.[18].

Missbrauch und Selbststigmatisierung

Die Diagnose ADHS und die mit ihr einhergehende Klarheit über die Ursache für die oft lebenslangen Probleme kann für viele Eltern betroffener Kinder sowie für Erwachsene Betroffene angesichts der sich nun anbietenden Therapiemöglichkeiten eine bedeutende Entlastung sein. Allerdings bergen die laut einer Bochumer Studie häufig unsauber durchgeführten Diagnostiken die Gefahr weiter ansteigender Fehldiagnosen, die ihrerseits ein relativ großes Risikospektrum beinhalten, wenn die eigentlich zugrundeliegende, primäre Störung im Rahmen der Differenzialdiagnostik nicht erkannt wird. Dies kann auch bspw. Missbrauch auf körperlicher und emotionaler Ebene mit einschließen, der als Folge der ADHS-Diagnose weiterhin unentdeckt bleibt[19] - bis zu 30% aller Kinder und Jugendlichen befinden sich unter den Opfern allein sexuellen Missbrauchs.[20] Der Hypothese zufolge könnte sowohl eine wahr-positive, als auch eine falsch-positive ADHS-Diagnose im Umfeld des von Missbrauch betroffenen Symptomträger-Kindes dazu führen, dass eventuell stattfindendem Missbrauch keine weitere Aufmerksamkeit mehr zukäme. In beiden Fällen besteht so insbesondere bei nur schwer aufzudeckendem Missbrauch (emotionaler/narzisstischer Missbrauch, subtile Formen sexueller Ausbeutung, „Körperstrafen“/Züchtigungen ohne offensichtliche Blessuren) die Gefahr, dass dieser für lange Zeit nicht aufgedeckt, und vom Opfer selbst sogar nicht als solcher identifiziert wird, da es aufgrund der ADHS-Diagnose als „schwer erziehbares Kind“ mit monokausal neurobiologischer Genese stigmatisiert und etikettiert ist[21][22] und ein entsprechendes, verzerrtes Schuldbewusstsein entwickelt hat[23], dessen Struktur in der Form einer Selbststigmatisierung bis ins Erwachsenenalter hinein aufrechterhalten wird.

Selbsterfüllende Prophezeihungen

Eine mittelschwer oder schwer ausgeprägte ADHS-Symptomatik verursacht in aller Regel Leidensdruck zumindest in vereinzelten Lebensbereichen. Immer wiederkehrende Misserfolge, Rückschläge und Versagenserfahrungen, die oftmals mit stigmatisierenden Tadeln und Bestrafungen einhergehen, führen im Laufe eines Betroffenenlebens zu Selbstbild- und Selbstwirksamkeitsstörungen. Die geschmälerten Selbstwirksamkeitserwartungen äußern sich dann häufig in selbsterfüllenden Prophezeihungen (self-fulfilling-prophecies), bei denen das Selbstbild der Betroffenen durch die ständige Bewusstwerdung der eigenen Andersartigkeit nach und nach dem von anderen suggerierten Fremdbild zu entsprechen beginnt. Die Übernahme der zugeschriebenen Rolle setzt einen in sich geschlossenen Teufelskreis in Gang, da die Erwartungen des stigmatisierenden Umfelds sich erfüllen, dieser den Betroffenen weiterhin stigmatisiert und vice versa.

Dieses Schema tritt jedoch auch im Zusammenhhang mit der im Umfeld bekannten, positiven ADHS-Diagnose auf. So können Betroffene mit den eventuell durch die Diagnose implizierten negativen Erwartungen, Stereotypen und Rollenbildern („schlechter Schüler", „Klassenclown", „Traumsuse", „Tollpatsch", „Zappelphilipp", „Störer") etikettiert werden, wodurch das zugewiesene Rollenbild internalisiert und das eigentlich unerwünschte Verhalten weiter verstärkt wird (Pygmalion-Effekt).[24]

Dynamik selbsterfüllender Prophezeihungen

Milich et al. beobachteten 1992 den Interaktionsprozess zwischen Paaren von Kindern, die einander nicht kannten. Einigen Kindern wurde vor Durchführung mitgeteilt, dass ihr Interaktionspartner verhaltensgestört sei. In diesen Fällen wurde das als verhaltensgestört bezeichnete Kind weniger freundlich behandelt und eher aus dem Spiel ausgeschlossen als Kinder, deren Interaktionspartner diese Information nicht erhalten hatten. Die betroffenen Kinder spürten die Ablehnung ihrer Interaktionspartner und verstärkten daraufhin durch ihr eigenes Verhalten die negativen Reaktionen, wodurch sich ihr eigenes negatives Verhalten wiederrum verstärkte und so weiter.[25]

ADHS-Betroffene reagieren in der Regel sehr intensiv auf soziale Verstärkerreize, weshalb diese negative Verstärkung in Form einer Rollenzuweisung unbedingt vermieden werden sollte. Stattdessen sollten die Betroffenen so häufig wie möglich gelobt, ermutigt und ihre persönlichen Stärken hervorgehoben werden, um ihr ohnehin meist angeschlagenes Selbstwertgefühl nicht weiter zu schmälern. Ob das Hervorheben möglicher ADHS-spezifischer Stärken angesichts vorangegangener Stigmatisierungsprozesse Sinn macht, sollte dabei überlegt werden, da diese zwar als positive Merkmale, andererseits jedoch auch als ein Rollenbild vervollständigende Gegenstücke wahrgenommen werden können. Dies ist jeweils davon abhängig, ob und inwieweit im Zusammenhang mit der Diagnose ADHS bereits Stigmata internalisiert wurden.

Medikation

Die in schweren Fällen ergänzend eingesetzte medikamentöse Behandlung kann den Therapiefortschritt beschleunigen und verbessern, was in der Folge auch eine Verbesserung der ADHS-bedingten Schwierigkeiten erwirkt. In manchen Fällen ermöglicht die Pharmakotherapie auch erst den Therapiebeginn. Andererseits kann die Einnahme von Medikamenten bei Kindern und Jugendlichen - vor allem, wenn dies regelmäßig vor Mitschülern geschieht - zu Stigmatisierungen beitragen, da Psychostimulanzien insbesondere in Zusammenhang mit der Diagnose ADHS in der Gesellschaft häufig negative Attributionen anhaften. Hier kann ein Ausweichen auf Retardpräparate hilfreich sein, sodass die Einnahme des Medikaments auf die einmalige Einnahme am Morgen reduziert ist.

Eine ungünstige Erwartungshaltung an Medikamente seitens der Eltern, Lehrer oder anderer Personen kann ebenfalls stigmatisierend wirken. So sollte etwa auf unerwünschtes Verhalten beispielsweise keinesfalls mit der Frage reagiert werden, ob die verordneten Medikamente bereits eingenommen wurden.

Stigmabewältigung

Erfährt ein Individuum Stigmatisierung, entwickelt es in der Regel Strategien zur Bewältigung dieser, um die eigene Identität in der Gesellschaft, von der es anerkannt oder aufgenommen werden will, zu erhalten oder wiederherzustellen. Hier können nicht nur im Falle einer problematischen ADHS verschiedene Copingstrategien häufig beobachtet werden.

Korrektur des Stigmas

Der Stigmatisierte versucht, das Stigma so gut als möglich zu kaschieren und sich an die herrschende Normalität anzupassen.[26] Bei ADHS bedeutete dies, beispielsweise im Rahmen sozialer Interaktionen, die sich sonst verstärkt abzeichnende Impulsivität (nicht ausreden lassen, häufige Themenwechsel, Wutausbrüche) bewusst zu unterdrücken. Dies gelingt den Betroffenen häufig sehr gut, jedoch oftmals nur kurzzeitig auf eine Annäherungsphase beschränkt und in der Regel auch auch nur, solange äußere (v. a. soziale) Belastungs- und Stressfaktoren weitgehend reduziert sind.

Abspaltung des Stigmas

Betroffene konstruieren ihre eigene Normalität neu und arrangieren sich nicht mit dem Stigma. Sie versuchen beispielsweise nicht, ihre ADHS-Symptome zu verbergen, sondern definieren sie für sich und für andere in eine spezifische Bedingung eines ansonsten normalen Verhaltens um.[27] Dabei können Erklärungen des Betroffenen während oder nach dem Auftreten der problematischen Symptome hilfreich sein. Diese Strategie kann den Betroffenen die Akzeptanz der Mitmenschen verschaffen und diesen helfen, den Betroffenen besser zu verstehen.

Selbststigmatisierung/Identifikation mit dem Stigma

Wenn Betroffene einem besonders aversiven und wenig verständnisvollen psychosozialen Umfeld ausgesetzt sind, in dem sich wenige Möglichkeiten zur Kompensation des Stigmas wirkungsvoll zeigen, bleibt ihnen häufig nur ein Arrangement mit dem ihnen zugewiesenen Rollenbild. Dabei beginnen die Betroffenen, sich mit dem Stigma zu identifizieren, was vor allem in den kindlichen und jugendlichen Entwicklungsphasen in eine Überformung der Persönlichkeit münden kann. Das Rollenbild des "Klassenclowns", "Störenfrieds" oder des "Tollpatsches" wird dann von den Betroffenen als integraler, wenn nicht kardinaler Bestandteil der Persönlichkeit wahrgenommen und auch zur Schau gestellt, weil zumindest über diese maladaptiven Charaktermerkmale eine (wenn auch nur marginale) soziale Akzeptanz erfahren werden kann. ADHS-betroffene im Erwachsenenalter zeigen häufiger noch regressives und nicht altersgemäßes, mitunter auch rücksichtsloses oder rebellisches Verhalten, das als ich-synton erlebt wird. Dies muss nicht immer singulär auf die ADHS zurückzuführen sein, sondern kann ggf. auch als Relikt einer früh erlernten Bewältigungsstrategie oder durch evtl. komorbide Störungen zu erklären sein.

Hier besteht zudem ein Risiko zur Entwicklung narzisstischer Persönlichkeitsakzentuierungen oder gar komorbider narzisstischer Persönlichkeitsstörungen.[28]

Sozialer Rückzug

ADHS ist als psychische Störung für andere Menschen nicht sofort sichtbar. Aufgrund ihrer Erfahrungen ist den Betroffenen aber bewusst, dass andere Menschen, sobald ihr Stigma sichtbar wird, abwertendes, stigmatisierendes Verhalten gegenüber dem Betroffenen zeigen könnten. Diese Möglichkeit kann von den Betroffenen als große Gefahr wahrgenommen werden, sodass sie in sozialen Interaktionen durch die Angst, ihr Stigma könnte sichtbar werden, stets angespannt und in Alarmbereitschaft sind. Nicht selten werden in der Folge komorbide soziale Ängste, bis hin zu sozialen Phobien entwickelt.[29]

Öffentliche Aktionen gegen Stigmatisierung bei ADHS

Mit dem Real Voices Report der Pharmakampagne Zukunftsbündnis ADHS (2014) sollte ein Beitrag zur Vorbeugung und Bekämpfung von Stigmatisierung und Diskriminierung im Zusammenhang mit ADHS geleistet werden.

Studien und wissenschaftliche Publikationen

Film und Fernsehen

Siehe auch

Literatur

  • Anders als die anderen: Was die Seele unserer Kinder krank macht, Franz-Joseph Freisleder, 2014, Piper, ISBN: 978-3492055352
  • Krutzek, D.: Regulartory Disorders in Children and Stigmatization in School Environments. Köln 2012.
  • Michaela Amering / Margit Schmolke: Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit, Psychiatrie-Verlag, Bonn 2007, ISBN 978-3-88414-421-3
  • Manfred Brusten / Jürgen Hohmeier (Hgg.): Stigmatisierung 1+2. Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen – Luchterhand Verlag, Darmstadt 1975
  • Asmus Finzen: Psychose und Stigma: Stigmabewältigung – zum Umgang mit Vorurteilen und Schuldzuweisungen, Psychiatrie-Verlag, Bonn 2000
  • Wolfgang Gaebel, Hans-Jürgen Möller, Wulf Rössler (Hgg.): Stigma – Diskriminierung – Bewältigung. Der Umgang mit sozialer Ausgrenzung psychisch Kranker, Kohlhammer, Stuttgart 2004
  • Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt am Main, 1967 [engl. Orig. 1963]

Weblinks

Weitere interessante Artikel

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Einzelnachweise

  1. https://www.duden.de/suchen/dudenonline/stigma
  2. https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/old-school-als-frau-lehrerin-den-rohrstock-schwang-a-586730.html
  3. GOFFMAN, ERVING: Stigma, Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. S12. Frankfurt am Main 1975
  4. Goffman a. a. O., New York, S. 138
  5. Hohmeier, J., Brusten, M.: Stigmatisierung 1, Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen, S.10. Darmstadt 1975
  6. Cloerkes, G.: Soziologie der Behinderten, Eine Einführung, S.171, Heidelberg 2007.
  7. https://de.wikipedia.org/wiki/Gerechte-Welt-Glaube
  8. http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.7.47.3161.3163.3164
  9. http://www.royalrife.com/ritalinfraud.html
  10. Beispiel aus den Boulevardmedien: RTL.de, Ritalin: So gefährlich ist das ADHS-Medikament, 10.02.14. Abgerufen: 09.09.2014
  11. Krutzek, D. (2012). Regulartory Disorders in Children and Stigmatization in School Environments. Köln.
  12. Biederman J, Mick E & Faraone SV: Age-dependent decline of symptoms of attention deficit hyperactivity disorder: impact of remission definition and symptom type. Am J Psychiatry 157;2000: 816-818
  13. Barkley RA: Attention-Deficit Hyperactivity Disorder. A Handbook for Diagnosis and Treatment, Guilford Press, New York 1998 3) Biederman J, Wilens T, Mick E et al: Is ADHD a risk factor for psychoactive substance use disorders? Findings from a four-year prospective follow-up study. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 36;1997:21-29
  14. Cunningham CE et al: Family functioning, time allocation and parental depression in the families of normal and ADHD children. Journal of Clinical Child Psychology and Psychiatry 17;1998:169-177
  15. Wilens TE, Prince JB, Biederman J, Spencer TJ, Frances RJ: Attention-deficit hyperactivity disorder and comorbid substance use disorder in adults. Psychiatr. Serv. 46(8); 1995: 765
  16. http://www.berkeleywellness.com/healthy-mind/mood/article/adhd-overdiagnosed
  17. http://www.pbs.org/wgbh/pages/frontline/shows/medicating/interviews/barkley.html
  18. http://tinyurl.com/qdahgk4
  19. http://intl-ccp.sagepub.com/content/early/2012/10/26/1359104512458228
  20. http://www.mikado-studie.de/index.php/sexueller-missbrauch.htm
  21. http://www.medscape.com/viewarticle/731970_3
  22. http://tinyurl.com/adhd-abuse
  23. Heiliger, A., Täterstrategien bei sexuellem Missbrauch und Ansätze der Prävention (PDF) in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 56/57, 2001, S.81-82. Abgerufen: 09.09.2014
  24. Wikipedia; Pygmalion-Effekt, abgerufen: 10.09.2014
  25. Vgl. http://tinyurl.com/pb3h7zp
  26. Abels, H.: Identitäten, in: Willems, Herbert (Hrsg.): Lehr(er)buch Soziologie, Für die pädagogischen und soziologischen Studiengänge, Band 2, S.522, Wiesbaden 2008.
  27. Abels, H.: Identitäten, in: Willems, Herbert (Hrsg.): Lehr(er)buch Soziologie, Für die pädagogischen und soziologischen Studiengänge, Band 2, S.522, Wiesbaden 2008.
  28. [www.psychosoziale-gesundheit.net/pdf/faust1_narzissmus.pdf Faust, F., Narzissmus - Von der zeit-typischen egoistischen Selbstverliebtheit bis zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung], in: Psychiatrie heute (PDF), abgerufen: 09.09.2014
  29. https://web.archive.org/web/20101011113255/http://www.csun.edu/~gk45683/ADHD%20and%20Anxiety.pdf


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