Mehr Sicherheit für ADHS-Patienten
Medikamenten-Ausweis nach § 4 Abs. 3 BtMG
Allgemeine Bedingung zur Aufnahme eines Hochschulstudiums ist eine Hochschulzugangsberechtigung wie die allgemeine Hochschulreife (Abitur), die fachgebundene Hochschulreife und die Fachhochschulreife. Die Diagnose ADHS korreliert jedoch statistisch mit der Wahrscheinlichkeit, über die Lebensspanne keinen Schulabschluss zu erreichen, der einen Hochschulzugang ermöglichen würde.
US-amerikanische Schätzungen gehen davon aus, dass ca. 2-8 % aller College-Erstsemester mit ADHS diagnostiziert sind,[1]. Nur etwa 5-10% der Betroffenen in der US-amerikanischen Gesamtbevölkerung (16 Millionen) absolvieren einen Collegeabschluss.[2] Für den deutschsprachigen Raum liegen aktuell keine Zahlen vor.[3] Grundsätzlich muss ADHS jedoch ein erfolgreiches Studium nicht ausschließen.[4]
ADHS-Betroffene sind im Rahmen des Studiums mit zahlreichen Stressoren konfrontiert, die jeweils stärker und behindernder auf sie wirken, als auf nicht Betroffene. Neben der allgemeinen Tagesstruktur sind unregelmäßige Vorlesungszeiten, enge Prüfungsintervalle, eventuell überfüllte Hörsäle und, je nach Studienrichtung, tagesfüllendes Bulimie-Lernen zu stemmen. Lernstoff ist - anders als aus Schulzeiten bekannt - in großen Teilen selbstständig zu erarbeiten, extrinsische Verstärkung, Motivation und (soziale) Rewards fehlen oft gänzlich. Diese Faktoren machen ein bedeutend höheres Maß an Funktionssteuerung erforderlich, die von den Betroffenen ein dauerhaft stabiles allgemeines Zeit-, Arbeits-, Lern- und Alltagsmanagement abverlangt.
Um diese im Vergleich zur Schulzeit deutlich höheren Leistungen dauerhaft erbringen zu können, ist die Wahl eines für den Studienanwärter interessanten Studienfachs sehr wichtig und nicht selten entscheidend. Für die Betroffenen ist oftmals eine vergleichsweise höhere intrinsische Dauermotivation vorausgesetzt, um über längere Zeiträume kognitiv leistungsfähig zu bleiben. Gerade diese erlangen die Betroffenen jedoch meist nur dann auf Dauer, wenn die Studieninhalte für sie mindestens in Teilen reizvoll sind. Andernfalls droht eine baldige Dekompensation (Burnout) mit dem Entwicklungsrisiko weiterer Erkrankungen.
Ebensogroßer Bedeutung kommt dem unterstützenden sozialen Umfeld (Familie und Freunden) des Studenten mit ADHS zu. Fehlt dieses oder sind hier kaum Ressourcen vorhanden, kann ein unterstützendes Coaching eine Möglichkeit darstellen.
Ein erster Verdacht auf ADHS kommt mittlerweile häufiger erstmals mit dem Übergang ins Erwachsenenalter und dem Beginn des Studiums auf. Nicht selten zeigen sich vor allem leicht bis mittelschwer Betroffene mit höherer Intelligenz im schulischen Umfeld weitgehend unauffällig, während sich mit dem Beginn des Studiums oft bislang unbekannte Probleme zu entwickeln scheinen. Sich verändernde Lebens- und Alltagsumstände treffen auf neue Erfordernisse an die selbstständige Lern-, Arbeits- und Alltagsorganisation ohne feste Strukturvorgaben von außen und verursachen daher nach Aufnahme des Studiums meist ungewohnte Mehrfachbelastungen in vielen Bereichen. Wird bei Aufnahme des Studiums das Elternhaus verlassen, fehlt fortan auch die strukturelle Unterstützung der Eltern.
Als Kernproblematiken der ADHS im Erwachsenenalter manifestieren sich weiterhin die oftmals mangelhafte Selbstorganisation, Konzentrationsdefizite, hohe Ablenkbarkeit, Vergesslichkeit, Probleme beim Setzen von Prioritäten sowie evtl. Komorbiditäten und Aufschiebeverhalten. Angesichts dieser Schwierigkeiten stellen die Anforderungen eines Studiums für ADHS-Betroffene eine ungleich höhere Belastung dar, als für nicht Betroffene, und machen daher auch einen weitaus höheren adaptiven Aufwand seitens der Betroffenen erforderlich, um einer Dekompensation entgegenzuwirken.
Zu häufigen und ADHS-korrelierten Schwierigkeiten von betroffenen Studierenden gehören in der Praxis ferner:
Hinzu kommen oftmals Schwierigkeiten bei der selbstständigen Alltagsbewältigung und -Organisation sowie in sozialen Bereichen, weshalb sich die Schwierigkeiten im Sinne der ADHS-bedingten Einschränkungen oftmals wechselseitig zuspitzen. Zu den sich häufig ergänzenden Schwierigkeiten in sozialen Bereichen sowie in Bereichen des Alltags zählen ferner oftmals:
Die oben genannten Schwierigkeiten können zunächst ubiquitären Anschein haben, da sie im Grunde bei vielen Studierenden mindestens teilweise anzutreffen sind. Bei ADHS-Betroffenen unterscheiden sie sich jedoch - insbesondere, wenn Komorbiditäten hinzukommen - deutlich hinsichtlich ihrer Schweregrade und Auswirkungen, sind meist dauerhaft und werden von den Betroffenen belastender und einschränkender erlebt, als von Nicht-Betroffenen, die in ihrem Studienalltag einer ähnlichen Problematik ausgesetzt sind.
Zu beachten ist, dass die genannten Schwierigkeiten im universitären Umfeld lediglich einen Anfangsverdacht für eine ADHS begründen können. Den genannten Problemen können auch psychische Belastungen oder andere Erkrankungen, wie schwere familiäre oder allgemeine Alltagsbelastungen, oder auch andere psychische Störungen, wie bspw. eine Borderline-Persönlichkeitsstörung, zugrunde liegen. Schwierigkeiten in den genannten Formen und Konstellationen treten bei einer primären ADHS häufig während des Studiums auf, weshalb eine sorgfältige differenzialdiagnostische Abklärung Klarheit schaffen kann.
Siehe auch: Psychoedukation
Die Aufklärung insbesondere des familiären Umfelds stellt für Studierende mit ADHS einen entlastenden Faktor dar, da mangelnde Leistungen und häufige Resignationsphasen oftmals sehr negativ bzw. falsch attribuiert werden („Gammelstudent“) und entsprechende, tadelnde Reaktionen zur Ausbildung selbsterfüllender Prophezeihungen beitragen können. Bei ADHS ist ein für Außenstehende scheinbar disziplinloses Verhalten häufig eher die Konsequenz der eingeschränkten Exekutivfunktionen, und weniger ein Ergebnis von Bequemlichkeit. Für ADHS-Betroffene ist ein stützendes familiäres/soziales Umfeld fundamental wichtig, weshalb die Situation der Betroffenen nicht durch Unverständnis oder überhöhte Erwartungen zusätzlich belastet werden sollte, da dies sowohl zur Ausweitung der ADHS-Symptomatik, als auch der Komorbiditäten beitragen kann.
In Deutschland sind universitäre Konzepte und spezifische Empfehlungen für Studierende mit ADHS bislang selten.
Die Universität Köln führte unter der Leitung von Lauth und Minsel bis August 2013 eine Untersuchung über die Wirksamkeit eines ADHS-Trainings für Studierende durch.[5] Das Training verfolgt das Ziel, Studierende mit ADHS bei der Bewältigung ihrer studienbezogenen und privaten Alltagsaufgaben zu unterstützen. In sechs wöchentlich stattfindenden Einheiten sollen dabei in Einzel- und Gruppensitzungen neben Kommunikationstrainings die Selbststeuerung und Selbsteinschätzung gefördert sowie Planungs- und Organisationsvermögen verbessert werden. Das Kölner Projekt wurde 2013 mit dem ADHS-Förderpreis des Pharmaherstellers Shire plc im Schwerpunkt Alltagsbewältigung ausgezeichnet.[6]
US-amerikanische Hochschulen wie das 1985 gegründete Landmark College[7] in Vermont bieten Konzepte an, die exklusiv auf die Bedürfnisse lern- und teilleistungsgestörter Studierender zugeschnitten sind. Fester Bestandteil des Curriculums sind dabei die individuelle Vermittlung von Lern- und Selbstorganisationsstrategien in den ersten Semestern. Die Kurse umfassen maximal 16 Studenten. Hochschulen mit vergleichbaren Konzepten fehlen derzeit im deutschsprachigen Raum.
Sämtliche Universitäten der Bundesrepublik Deutschland bieten für behinderte und chronisch kranke Studierende besondere Gestaltungen der Rahmenbedingungen hinsichtlich des Studiums an.[8] Ein Anspruch auf Nachteilsausgleich kann auch bei Teilleistungsstörungen und / oder ADHS geltend gemacht werden. Für die Beantragung verlangen die Universitäten meist entsprechende Bescheinigungen mit möglichst genauer Beschreibung der Symptome, die zu einer Beeinträchtigung in der Studiensituation führen, um eine möglichst bedarfsgerechte Ausgestaltung des Nachteilsausgleichs zu ermöglichen.
Ausgleichende Maßnahmen können bei ADHS beispielsweise sein:
Eine stark ausgeprägte ADHS-Symptomatik hat in der Regel schwerwiegende Auswirkungen auf die akademischen Leistungen der betroffenen Studierenden. Somit kann eine begleitende Medikation unter Umständen sogar Voraussetzung für den Studienerfolg sein. Piero Rossi postulierte gar, dass Betroffene mit unbehandelter Symptomatik den akademischen Anforderungen in aller Regel nicht gewachsen seien.[9]
Für Studierende besteht, analog zu den Behandlungsverfahren der ADHS im Erwachsenenalter, die Möglichkeit einer ergänzenden medikamentösen Therapie mit Methylphenidat, Amphetamin oder Atomoxetin. Zur Behandlung von ADHS im Erwachsenenalter sind in Deutschland aktuell die Präparate Elvanse Adult, Medikinet Adult, Ritalin Adult sowie Strattera zugelassen. Wenn bereits im Kindes- und Jugendalter die Diagnose ADHS gestellt worden ist, oder wenn ein Verdacht auf ADHS besteht, empfiehlt sich bereits vor Aufnahme des Studiums eine ärztliche Abklärung, bzw. eine medikamentöse Neu- oder Wiedereinstellung. Dies reduziert gegebenenfalls das Risiko einer krisenhaften Zuspitzung (infolge störungsbedingter Überlastungen) oder einer vorzeitigen Beendigung des Studiums.
Eine Studie der Universität Mainz (2013) brachte hervor, dass 20 % der Studierenden innerhalb der vergangenen 12 Monate versucht hatten, ihre akademischen Leistungen mit Neuro-Enhancern wie Modafinil oder Methylphenidat zu steigern.[10] Besonders hoch war die Prävalenz innerhalb sportlicher Studienfächer (25 %) sowie unter Erstsemestern (24 %).