Titration
Titration (auch: Titrationsverfahren) bezeichnet im Rahmen der Pharmakotherapie der ADHS das schrittweise Einschleichen und Anpassen von ADHS-Medikamenten, bis eine individuell optimale Dosis gefunden ist. Ziel ist dabei nicht die „höchstmögliche“ Dosis, sondern ein möglichst gutes Verhältnis von Wirksamkeit (Symptomreduktion, Funktionsverbesserung) zu Nebenwirkungen bei zugleich alltagstauglicher Wirkdauer.[1][2]
Ziel und Vorgehen bei ADHS-Medikamenten
Die Titration erfolgt typischerweise nach dem Prinzip „start low, go slow“: Zu Beginn der Behandlung wird mit einer niedrigen Dosis begonnen, die in kurzen Abständen (meist wöchentlich) angepasst wird, bis eine stabile Besserung von Symptomen und Funktionsniveau bei akzeptablen Nebenwirkungen erreicht ist.[3] Dieser Prozess erfolgt in der Regel durch einen in ADHS erfahrenen Facharzt oder eine spezialisierte Einrichtung. Nach Stabilisierung kann die weitere Verordnung im Rahmen eines Shared-Care-Modells an den Hausarzt übergehen.
Leitlinien empfehlen, während der Titrationsphase nicht nur die klinische Einschätzung, sondern auch standardisierte Skalen heranzuziehen, um Veränderungen systematisch zu erfassen. Hierzu zählen z. B. die Conners-Skalen, die ADHD-Rating-Scale, CAARS (bei Erwachsenen) oder vergleichbare Fremd- und Selbstbeurteilungsinstrumente. Erfasst werden sollen sowohl Kernsymptome (Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität, Impulsivität) als auch Beeinträchtigungen im Alltag (Schule, Arbeit, soziale Beziehungen) und Nebenwirkungen (z. B. Appetitminderung, Schlafstörungen, kardiovaskuläre Parameter).[4]
Titration von Stimulanzien (Methylphenidat und Amphetamine)
Bei Methylphenidat in unmittelbarer Freisetzung (IR) liegt die übliche Einstiegsdosis für Kinder und Jugendliche sowie Erwachsene oft bei 5 mg ein- bis zweimal täglich, z. B. morgens und mittags. Anschließend wird die Tagesdosis in der Regel in Schritten von 5–10 mg pro Woche gesteigert, bis eine ausreichende Wirkung erreicht ist oder Nebenwirkungen limitierend werden.[5][6] Für viele Patienten bewegt sich die Tagesgesamtdosis im Bereich von 20–60 mg, wobei die konkrete Obergrenze vom Präparat und der jeweiligen Fachinformation abhängt.
Bei retardierten Methylphenidat-Präparaten (z. B. Concerta, Medikinet Retard/Adult, Ritalin LA/Adult) wird die Titration häufig mit der jeweils niedrigsten verfügbaren Wirkstärke begonnen und anschließend in den vom Hersteller vorgesehenen Dosissprüngen (z. B. 10 mg- oder 18 mg-Schritte) vorgenommen. Auch hier erfolgt die Anpassung üblicherweise im Wochenabstand. Durch das verlängerte Wirkprofil kann bereits ein Dosiswechsel deutliche Veränderungen im Tagesverlauf bewirken, sodass zu rasche Steigerungen vermieden werden sollten.[7]
Für Amphetaminpräparate (z. B. Lisdexamfetamin, Dexamfetamin) wird ein vergleichbares Vorgehen empfohlen: niedrige Anfangsdosis, wöchentliche Steigerung in festgelegten Schritten bis zur Zieldosis, wobei bei Lisdexamfetamin oft 20-mg-Schritte verwendet werden. Die formale Äquivalenz zwischen Methylphenidat- und Amphetamindosen (z. B. in Äquivalenztabellen) basiert dabei auf klinischen Erfahrungswerten und nicht auf exakten pharmakodynamischen Potenzvergleichen.
Titrationsdauer und Bewertung des Therapieerfolgs
Die Dauer der Titrationsphase kann je nach Präparat, Vorerfahrungen und individueller Sensitivität variieren, beträgt in der Praxis jedoch meist mehrere Wochen. Leitlinien empfehlen, Symptome, Funktionsniveau und Nebenwirkungen bei jeder Dosisänderung systematisch zu dokumentieren – etwa durch kurze Kontrolltermine oder telefonische Rückmeldungen im Wochenabstand – und erst nach einer ausreichend langen Beobachtungszeit zu entscheiden, ob eine Dosis beibehalten, weiter erhöht oder wieder reduziert werden soll.[8]
Als Indikator für eine „optimale“ Dosis gelten eine deutliche Reduktion der ADHS-Kernsymptome, eine spürbare Verbesserung im Alltag (z. B. bessere Arbeitsorganisation, weniger Konflikte, verbesserte Schulleistungen) sowie tolerable Nebenwirkungen. Ein rein subjektives „Kick“-Erleben, starke Stimmungsschwankungen oder ausgeprägte Nebenwirkungen sind dagegen Warnsignale, die eher für eine Überdosierung oder eine ungeeignete Präparatewahl sprechen.
Titration von Nicht-Stimulanzien
Auch Nicht-Stimulanzien wie Atomoxetin, Guanfacin oder Clonidin werden titriert, allerdings meist mit langsameren Aufdosierschemata und größeren Zeitabständen zwischen den Anpassungen (z. B. alle 1–2 Wochen). Bei diesen Substanzen steht nicht die schnelle, tagesabhängige Feinanpassung im Vordergrund, sondern ein allmählicher Aufbau eines steady state mit Beobachtung der über Wochen eintretenden Veränderungen von Symptomen und Nebenwirkungen (etwa Blutdruck, Herzfrequenz, Sedierung, Gewicht).[9]
Grenzen des Titrationsverfahrens
Trotz strukturierter Titration lassen sich nicht alle Patienten eindeutig auf eine „optimale“ Dosis einstellen. Komorbiditäten (z. B. Angststörungen, Depression, Substanzkonsum), ungünstige Rahmenbedingungen (Schul- und Familiensituation, Arbeitsbelastung) oder fehlende Adhärenz können den Nutzen einer Pharmakotherapie deutlich begrenzen. Die Titration ersetzt daher weder eine sorgfältige Diagnostik noch ergänzende Maßnahmen wie Psychoedukation, verhaltenstherapeutische Interventionen oder Anpassungen der Lern- und Arbeitsumgebung. Bleibt trotz adäquater Titrationsversuche – einschließlich einer erneuten Reduktion der Dosis bei Verdacht auf Überdosierung – eine ausreichende Besserung aus oder treten paradoxe Verschlechterungen auf, muss differenzialdiagnostisch weiter exploriert und gegebenenfalls ein Wechsel des Wirkprinzips in Betracht gezogen werden. So kann beispielsweise etwa eine bislang nicht erkannte Bipolare Störung vorliegen, bei der Stimulanzien und andere aktivierende Substanzen eher Phasen von Manie oder Hypomanie triggern können, während ein Stimmungsstabilisierer wie Lamotrigin mit einem völlig anderen Wirkmechanismus besser zur zugrunde liegenden Pathophysiologie passen würde.
Siehe auch
Weitere interessante Artikel

Einzelnachweise
- ↑ National Institute for Health and Care Excellence (NICE). (2018). Attention deficit hyperactivity disorder: diagnosis and management (NG87). London: NICE.
- ↑ Brown, K. A., Samuel, S., & Patel, D. R. (2018). Pharmacologic management of attention deficit hyperactivity disorder in children and adolescents: a review for practitioners. Translational Pediatrics, 7(1), 36–47.
- ↑ National Institute for Health and Care Excellence (NICE). (2018). Attention deficit hyperactivity disorder: diagnosis and management (NG87). Kapitel 1.7: Medication – titration and monitoring.
- ↑ Brown, K. A., Samuel, S., & Patel, D. R. (2018). Pharmacologic management of attention deficit hyperactivity disorder in children and adolescents: a review for practitioners. Translational Pediatrics, 7(1), 36–47.
- ↑ Shared Care Guideline – Methylphenidate for ADHD in Adults. Nottinghamshire APC. (2024).
- ↑ Methylphenidate – dosage and titration. NHS Medicines Information (2025). How and when to take methylphenidate for adults. https://www.nhs.uk
- ↑ Janssen-Cilag. Concerta – Fachinformation. (aktuelle Version).
- ↑ National Institute for Health and Care Excellence (NICE). (2018). NG87 – Attention deficit hyperactivity disorder: diagnosis and management.
- ↑ Brown, K. A., Samuel, S., & Patel, D. R. (2018). Pharmacologic management of attention deficit hyperactivity disorder in children and adolescents: a review for practitioners. Translational Pediatrics, 7(1), 36–47.