Mehr Sicherheit für ADHS-Patienten
Medikamenten-Ausweis nach § 4 Abs. 3 BtMG
Während bis in die 1990er Jahre hinein angenommen wurde, dass ADHS eine Störung des Kindes- und Jugendalters sei, konnte mittlerweile nachgewiesen werden, dass ein Großteil der Symptome bei mindestens der Hälfte der Betroffenen - in Teil- oder Vollausprägung - in das Erwachsenenalter hinein persistiert.[1][2][3] Noch vergleichsweise übersichtlich ist hingegen die Forschungslage hinsichtlich der ADHS bei Senioren (auch: ADHS im Senium, ADHS im höheren Alter).
Weitere Untersuchungen zur Erforschung der ADHS im höheren Lebensalter werden aktuell europaweit durchgeführt, um ein genaueres Bild über die gesundheitlichen Auswirkungen, den individellen Leidensdruck sowie über die Lebensbewältigung älterer Menschen mit ADHS zu erhalten.[4]
Das klinische Bild der ADHS bei Erwachsenen kann im Wesentlichen auf jenes der ADHS bei Senioren übertragen werden. Zu berücksichtigen ist dabei noch immer der häufige pathoplastische Symptomwandel nach dem Eintritt ins Erwachsenenalter, der geprägt ist durch ein Fortbestehen der Aufmerksamkeits- und Impulsregulationsstörung bei einer mindestens partiellen Rückbildung der motorischen Hyperaktivität. Unverändert fortbestehend sind - unter Wegfall des beruflichen Belastungsfaktors ab Renteneintritt - insofern die restliche Leitsymptomatik sowie die ADHS-typischen Alltagsschwierigkeiten und Begleiterscheinungen und -Erkrankungen.[5] Darunter befinden sich Schwierigkeiten im psychosozialen Bereich (soziales Umfeld wie Freunde und Familie), Umgang mit (den oft geringen) finanziellen Ressourcen, Organisation des Lebensalltags (oft mangelhafte und einseitige Ernährung, Schwierigkeiten beim Halten von Ordnung und Führen des Haushalts, Versäumen von Terminen etc.).
Nachgewiesenermaßen ist die Gesamtkonstitution von Senioren mit ADHS in den meisten Fällen deutlich schlechter, als jene von Menschen gleichen Alters ohne ADHS.
Während die Untersuchungslage zum spezifischen Leidensdruck von ADHS-Betroffenen im Senium noch nicht aussagekräftig ist, gehen Philipp-Wiegmann et al. bei Senioren mit ADHS von einem Leidensdruck aus, der mit jenem jüngerer ADHS-Betroffener vergleichbar ist. Es bestehe jedoch auch die Möglichkeit, dass die betroffenen Senioren aufgrund des kumulativen Effekts der negativen Lebensereignisse mehr unter den Negativkonsequenzen von ADHS leiden, als Jüngere. Andererseits käme aber auch im Sinne der Resilienz-Theorie von Brown[6] eine bessere Adaption von älteren Menschen mit ADHS in Frage. Adam Alfred weist indes auf Basis seiner Praxisbeobachtungen darauf hin, dass bei älteren Menschen in den meisten Fällen von einem höheren Leidensdruck aufgrund der ADHS ausgegangen werden kann. Mit den mit Erreichen eines höheren Lebensalters eintretenden körperlichen und freiheitlichen Einschränkungen (letzteres etwa durch das Angewiesensein auf betreutes Wohnen in einem Pflegeheim) gehe ein Wegfall vieler Bewältigungsstrategien einher, welche für die Betroffenen im Laufe ihres Lebens wichtige kompensatorische Funktionen hatten.[7] Nicht nur für Menschen mit ADHS bedeutet darüber hinaus das Fehlen einer regelmäßigen Tätigkeit oder einer verantwortungsvollen Aufgabe und des damit einhergehenden Erfolgs einen einschneidenden Wegfall einer wichtigen, stabilisierenden Ressource. Alfred schlägt daher eine Anpassung der Angebote für ADHS-betroffene Senioren in Pflegeheimen vor.
Unverändert fortbestehend und aufgrund der speziellen Situation im höheren Alter gegebenenfalls auch stärker ausgeprägt sind darüber hinaus auch Komorbiditäten, zu denen bei ADHS insbesondere Achse-I- sowie Achse-II-Störungen gehören,[8] darunter besonders häufig Depressionen sowie Angst- und Persönlichkeitsstörungen. Die bei älteren Menschen ohnehin häufig einsetzende soziale Isolation bzw. Vereinsamung kann in Folge der zusätzlichen sozialen Belastung durch solche Begleitstörungen noch verstärkt werden, wenn sich etwa der engere Freundes- und Familienkreis von dem Betroffenen abwendet.
Letztlich stellen sich auch bei Senioren mit ADHS die bei älteren Menschen ohnehin vorkommenden, retrospektiven Hinterfragungen des eigenen Lebens ein: „Was hätte ich anders/besser machen können/sollen, welche Möglichkeiten und Chancen hätte ich wahrnehmen sollen, was habe ich möglicherweise verpasst?“. Bei ADHS-Betroffenen ist diese (rückblickende) Selbsthinterfragung häufig dauerhaft unterschwellig wirksam und dominierend, da sich die Betroffenen - umso mehr nach der Sicherheit gebenden Diagnostik - den oftmals großen Diskrepanzen zwischen ihrem theoretischen Leistungspotenzial ohne ADHS-Symptomatik und ihrer tatsächlichen Leistung bewusst sind. Insbesondere bei älteren Menschen mit ADHS ist insofern davon auszugehen, dass ADHS in diesem Zusammenhang maßgeblich an der Entstehung von komorbiden depressiven Störungen beteiligt ist.
Eine erste epidemiologische Querschnittsuntersuchung zur Prävalenz der ADHS im höheren Lebensalter wurde im Jahr 2009 von Guldberg-Kjär und Johansson durchgeführt.[9] In der Studie, für welche eine Kurzversion der Wender Utah Rating Scale mit 25 Items bei einer Stichprobe von 1599 Menschen im Alter von 65 bis 80 Jahren eingesetzt wurde, konnte nach der retrospektiven Selbsteinschätzung der Betroffenen eine Prävalenz von 3,3 % festgestellt werden. Dies stimmt weitgehend mit der Prävalenz der ADHS im Erwachsenenalter überein. Ähnliche Ergebnisse erzielte eine erste deutsche Studie aus dem Jahr 2015 von Philipp-Wiegmann et al. Die Untersuchung von 296 Probanden über 60 Jahren ergab eine Prävalenzrate von 3,7 %.[10]
Subtyp | Häufigkeit |
---|---|
Kombiniert | 2,0 % |
Unaufmerksam | 0,34 % |
Hyperaktiv | 1,36 % |
Prävalenz | 3,7 % |
Die Diagnostik der ADHS im Senium entspricht den Diagnoseleitlinien der ADHS bei Erwachsenen.[11] Differentialdiagnostisch sind jedoch für Senioren Besonderheiten zu betrachten. Problematisch ist einerseits die Tatsache, dass fremdanamnestische Angaben oft fehlen, da Eltern und andere beurteilungsfähige Verwandte nicht mehr verfügbar sind. Darüber hinaus sollte - neben den üblichen Differenzialdiagnosen - unter dem Gesichtspunkt einer sorgfältigen gerontopsychiatrischen Differenzialdiagnostik eruiert werden, ob die Symptome besser durch alterstypische Faktoren zu erklären sind, darunter beispielsweise:[12]
Weiterhin gilt grundsätzlich, wie auch für die adulte ADHS, dass der pathophysiologische Konsolidierungsprozess zwar durch Reifung und Alterung über mehrere Jahrzehnte beeinflusst wird, jedoch nicht von einer vollständigen Rückbildung der ADHS-assoziierten Symptome ausgegangen werden kann. Wenn sich in der Retrospektive Hinweise auf eine ADHS im Kindes- und Jugendalter finden, sollte in der Diagnostik ein besonderer Fokus auf überformte, das heißt möglicherweise durch Kompensationsmechanismen (und auch bspw. alterungsbedingte Präformationen) larvierte ADHS-Anzeichen gelegt werden.
Die aktuell geringe Datenlage hinsichtlich der ADHS bei Senioren ist vor dem Hintergrund der Schwierigkeit zu sehen, dass das Bewusstsein für die Störung in der älteren Bevölkerung bislang nur gering ausgeprägt ist.[14] Die Generation der heute 60-Jährigen war in ihrer Kindheit und Jugend mit pädagogischen und sozialen Entwicklungsbedingungen konfrontiert, die sich signifikant von den heutigen unterschieden haben. Noch deutlich über die 1970er Jahre hinaus waren motorische Hyperaktivität („Zappeligkeit“), Unaufmerksamkeit („Träumerei“) und Impulsivität („Ungezogenheit“, „Ungeduldigkeit“) in der Allgemeingesellschaft, aber auch unter Ärzten, im Sinne sozialer Stigmata mit mangelnder Disziplin gleichgesetzt und wurden nicht gleichermaßen mit möglichen Störungen der Hirnaktivität in Verbindung gebracht - es existierte schlichtweg kein Konstrukt, das diese Auffälligkeiten medizinisch zu erklären vermochte. Daher ist auch die Diagnostik mit methodologischen Schwierigkeiten behaftet, da mit ADHS etwas zu erfassen versucht wird, das in der Kindheit und Jugend der älteren Generation noch nicht als pathophysiologisch bedingt begriffen wurde. Nicht selten ist daher auch die Akzeptanz der Vorstellung einer Assoziation zwischen dem Verhalten und kausalen neurobiologischen Bedingungen in der älteren Generation eher gering. Eine große Bedeutung kommt daher einer an diese Generation angepassten Psychoedukation zu.
In Sinne des auch im höheren Alter hinsichtlich Symptomatik, Ausprägung und Komorbiditäten heterogenen Störungsbilds orientiert sich die Behandlung der ADHS im Senium an den Leitlinien, welche ein multimodales Vorgehen empfehlen. Dieses richtet sich nach der individuellen Situation und den Bedürfnissen des Patienten. Es setzt sich in der Regel - abhängig von Ausprägung und kausalem Leidensdruck - aus Elementen psychotherapeutischer und pharmakotherapeutischer Optionen zusammen. Die besondere Situation des älteren Patienten muss dabei nochmals von jener des erwachsenen Patienten mittleren Alters differenziert werden: So sind beispielsweise die zur Behandlung von Erwachsenen mit ADHS geeigneten psychotherapeutischen Verfahren im Sinne eines Fertigkeitentrainings ohne eine Adaption an die speziellen Lebensumstände der Senioren wenig geeignet. Auch hinsichtlich der Pharmakotherapie von Senioren müssen besondere Bedingungen beachtet werden, welche im nachfolgenden Absatz erläutert werden.
Ein grundsätzliches Problem ist nach wie vor die einstimmig mangelhaft einzustufende allgemeine Versorgung von ADHS-Patienten,[15][16] durch welche sich die Therapie gerade für ältere Menschen mit ADHS schwierig gestaltet.[17] Spezifische Therapieprogramme existieren bislang nicht.
Zu der pharmakotherapeutischen Behandlung von Senioren mit ADHS wird unterschiedlich berichtet; systematische Untersuchungen fehlen allerdings bislang. Während eine Pilotstudie mit 11 Patienten über 55 Jahre von keinen negativen Arzneimittelwirkungen und ähnlichen Erfolgsergebnissen wie aus der Behandlung von Patienten mittleren Alters berichtet,[18] wurden von anderen Arbeitsgruppen signifikante kardiovaskuläre Nebeneffekte in einem Kausalzusammenhang mit Methylphenidat festgestellt.[19] Besonderer Wichtigkeit kommen daher einer gewissenhaften Abklärung des gesundheitlichen Zustandes des Patienten und regelmäßigen katamnestischen Untersuchungen während der Behandlung zu. Angesichts der genannten Risikofaktoren hinsichtlich der Neben- und Wechselwirkungen von Methylphenidat kann zudem auch eine stimulanzienfreie Medikation angedacht werden, etwa mit Atomoxetin, anderen Antidepressiva oder Antihypertensiva, wie sie teilweise auch bei Kindern und Jugendlichen eingesetzt werden.[20]
Darüber hinaus ist bei älteren Menschen allgemein an eine eventuelle Polypharmazie und das mit dieser einhergehende Risiko von Arzneimittelwechselwirkungen zu denken.
Philipp-Wiegmann und Supprian weisen vor dem Hintergrund des demographischen Wandels insbesondere in den westlichen Ländern auf die Wichtigkeit einer vermehrten gerontopsychiatrischen Aufmerksamkeit und einer adäquaten Behandlung älterer Menschen mit ADHS hin.[21]
Brod, Johnston et al. weisen auf die Gefahr falsch-negativer gerontopsychiatrischer ADHS-Diagnosen hin, vor dem Hintergrund, dass ADHS-assoziierte Symptome auch als Anzeichen anderer psychiatrischer Erkrankungen missinterpretiert werden können, darunter insbesondere Demenz.[22] ADHS-bedingte Arbeitsgedächtnisstörungen können durch mnestische Defizite infolge der hippokampalen Neurodegeneration überlagert und verstärkt werden, das heißt, demenzielle Syndrome können einer ADHS-bedingten Präformierung unterliegen und durch den neurodegenerativen Abbauprozess weiter akzentuiert werden.
Supprian et al. weisen darauf hin, dass es bei ADHS im Laufe des Lebens möglicherweise zu einer Verschiebung der Prävalenz zwischen Männern und Frauen kommen könnte. Die Autoren gehen dabei von einer höheren Mortalität bei Männern infolge der ADHS-assoziierten Risiken (riskanter Lebensstil, höhere Unfallhäufigkeit, höheres Risiko für Suchterkrankungen) aus. Aufgrund der ohnehin größeren Lebenserwartung von Frauen sei der Einfluss der ADHS methodisch jedoch nur schwer zu fassen.