Selbstwahrnehmung von ADHS-Betroffenen
Die Selbstwahrnehmung, also die Wahrnehmung der eigenen Person, bildet gemeinsam mit der Selbstbeobachtung das Fundament für das Selbstbewusstsein, das Selbstbild und das Selbstwertgefühl eines Menschen.
Infolge der häufigen negativen Rückmeldungen ihres sozialen Umfelds sind Selbstwahrnehmung und Selbstwertgefühl von Menschen mit beeinträchtigender ADHS-Symptomatik in der Regel gestört oder verzerrt. Die Selbstbild- und Selbstwertproblematik weitet das Problemspektrum der Betroffenen meist deutlich aus, begünstigt die Entwicklung von Begleiterkrankungen und ist daher eines der wichtigsten Problemfelder in der Psychotherapie oder des Coachings.
Mit der ADHS-Symptomatik geht gegebenenfalls ein hoher Leidensdruck einher. Die Betroffenen suchen oftmals bereits lebenslang nach Erklärungen für ihre individuellen Schwierigkeiten und sind deshalb oft erleichtert über die Erklärungsmöglichkeit, die sich infolge einer positiven Diagnose anbieten würde. Problematisch ist dabei die in der Praxis häufig mangelhafte Patientenaufklärung, weshalb bei vielen ADHS-Patienten infolge mangelnder Kenntnisse über das Störungsbild sowie aufgrund des häufig dependenten Selbstkonzepts eine unangemessene Verschmelzung des Selbstbilds mit Anteilen des Strörungsbilds zu beobachten ist. Dies birgt somit deutlich die Gefahr von Identitässtörungen, welche die hohe Wichtigkeit psychotherapeutischer und psychoedukativer Bausteine in der multimodalen Therapie mitbedingen.
Ursachen und Bedingungen gestörter Selbstwahrnehmung bei ADHS
Tendenz zu „negativem Hyperfokussieren“
Experten wie Heiner Lachenmeier vermuten, dass einerseits die reduzierte Wahrnehmungsfilterung und andererseits eine Tendenz zu einem „negativem Hyperfokussieren", also einem mangelhaft kontrolliertem Hineinsteigern in negative Gedanken, eine zentrale Rolle bei der Ausbildung der verminderten Selbstwertwahrnehmung ADHS-Betroffener spielen.[1]
Rasche kognitive Überlastung
Laut Lachenmeier führt im Falle von ADHS eine gegebenenfalls neurobiologisch bedingte Anfälligkeit zu schneller kognitiver, emotionaler und psychosomatischer Überlastung zwangsläufig zu häufigen Misserfolgen und Versagenserfahrungen, mit entsprechend negativem Feedback des sozialen Umfelds. ADHS-Betroffene benötigen für Situationen, in denen sich Nichtbetroffene meist schnell intuitiv zurechtfinden, stets einen kognitiv unterstützenden „Fahrplan", der ihr Handeln strukturiert und die mangelhaft ausgebildeten Exekutiv- und Filterfunktionen kompensiert. Beispielsweise benötigen die Betroffenen zum Erlernen von Routineaufgaben sehr detaillierte Anleitungen und häufige Wiederholungen, bis die benötigten Abläufe sicher verinnerlicht sind. Ist eine solche Unterstützung vorhanden, können die Betroffenen Leistungen erbringen, die ihrem Leistungspotential entsprechen, was als persönlichen Erfolg und selbstwertsteigernd attribuiert wird. Fehlt die Unterstützung, tritt schnell eine kognitiv-emotionale Überlastung ein. Zum Schutz des sozial bedrohten Selbstwertgefühls sowie aufgrund der Mängel der zentralnervösen Hemmungskontrolle reagieren die Betroffenen in der Folge heftig, regressiv und sozial inadäquat, was die Situation in der Konsequenz eskalieren lässt. So können aus ursprünglich unbelasteten Situationen sehr spontan heftige Konfliktszenarien entstehen. Da andere Beteiligte weder um das schnelle kognitiv-emotionale Überforderungspotential, noch von der syndromtypischen, geringen Impulshemmung des Betroffenen wissen, ist der Entstehungsgrund des Konflikts für sie meist nicht nachvollziehbar. Das Risiko der Betroffenen, aufgrund des scheinbar unberechenbaren, wenig kohärenten und inadäquaten Verhaltens in soziale Außenseiterpositionen zu geraten oder gar Mobbing ausgesetzt zu sein, ist daher erhöht.
Inkonsistente Leistungen und negatives soziales Feedback
Hinzu kommen Diskrepanz-Erfahrungen durch postulierte Hyperfoci, bei dem das Konzentrationsniveau mit dem jeweils stimulierten, situativen Interesse korreliert und den Betroffenen auch hohe Aufmerksamkeit über längere Zeit ermöglicht, obwohl sie eigentlich als aufmerksamkeitsschwach gelten. Diese Diskrepanz soll zu negativem sozialen Feedback und folgerichtig zu negativen Selbstwert-Attributionen prädestinieren, da die ansonsten mangelhafte Aufmerksamkeit von Außenstehenden als Unwille oder Faulheit interpretiert wird.
Negative Gedankenspiralen
Als verstärkenden Effekt beschreibt Lachenmeier das Phänomen eines postulierten „negativen Hyperfokus", der bei ADHS-Betroffenen, im Gegensatz zu Nichtbetroffenen, bereits durch geringe negative Stimuli ausgelöst werde und nur durch sehr starke Komplementärreize zu unterbrechen sei. Der Betroffene radikalisiere dabei situationsbezogene Einschätzungen, Gefühle und Impulse (er „sehe schwarz").[2] Er sei während des negativen Hyperfokus nicht mehr in der Lage, seine gesamte Persönlichkeit mit allen dazugehörigen Eigenschaften und Potenzialen wahrzunehmen. Als Folge des negativen Hyperfokus reagiere er mit kritikunfähigem Verhalten („Verteidigung bis aufs Blut"), nur Entkräftung der Kritik stelle den Selbstwert wieder her; oder aber die Kritik werde hingenommen, wobei eine vollständige Hyperfokussierung auf den nun reduzierten Selbstwert erfolge, mit sofortiger Depressivität bis hin zu Suizidalität in der Folge. Der Hypothese zufolge sind ADHS-Betroffene also zu permanenten Energieaufwänden gezwungen, um mit den negativen Gedankenkreisungen umgehen zu können. Das Konzept des Hyperfokus (als Phänomen mit neurobiologischer Genese) ist jedoch nicht wissenschaftlich begründet.
Folgen der Selbstwertproblematik
Ein geringes Selbstwertgefühl stellt einen bedeutsamen Risikofaktor hinsichtlich komorbider Erkrankungen sowie der Ausweitung der Gesamtsymptomatik dar. Bei ADHS sind insbesondere Depressionen, Suizidalität, aufschiebendes Verhalten und Vermeidungsverhalten, Zwangsstörungen und Persönlichkeitsstörungen (Borderline-/narzisstische Persönlichkeitsstörung) sowie Somatisierungsstörungen häufig.
In sozialen Situationen neigen die Betroffenen bisweilen zu Konfabulationen, um nicht negativ aufzufallen. Dieses Verhalten wirkt sich sozial nachteilig für die Betroffenen aus, insbesondere in Zusammenhang mit aufschiebendem Verhalten oder Vermeidugsverhalten, beispielsweise wenn Termine wiederholt nicht wahrgenommen und anschließend durch unglaubwürdige Ausreden entschuldigt werden sollen. Das Image des „unzuverlässigen Lügners" trägt zu einem sehr negativen Selbskonzept bei, das durch das entsprechende Feedback und Stigmata von außen immer weiter zementiert wird. → Siehe auch: ADHS-Teufelskreis.
„Durch den Mangel an Identitätsgefühl haben Betroffene oftmals eine überhöhte Vorstellung von Ganzheit und psychischer Gesundheit. Jeder Zwiespalt, jedes Gefühl von Ambivalenz und jeder Zweifel lösen als Signale bei den Betroffenen tief sitzende existenzielle Ängste aus.“[3]
—Piero Rossi (2001)
Folgen der gesellschaftlichen Sicht auf ADHS
Stärker ausgeprägte ADHS-Symptome sind im Erwachsenenalter mit Folgen verbunden, die betroffene Erwachsene als soziale, akademische und ökonomische „Versager“ stigmatisieren können. Geringe Selbstwirksamkeits-, soziale Ausgrenzungen und Versagenserfahrungen sind den Betroffenen zwar oftmals bereits aus Kindheit und Jugend bekannt, jedoch verändert sich der Leidensdruck qualitativ und nimmt meist auch deutlich zu. Während unangepasstes Sozialverhalten in Kindheit und Jugend gegebenenfalls noch wohlwollend als „verschmitzt und ungestüm“ oder (früh-/spät-) pubertär bewertet wurde und schulische Probleme im Sinne einer möglichen Unterforderung hinterfragt werden konnten, entfallen diese Entschuldigungsmöglichkeiten im Erwachsenenalter. Vielmehr sind konsistentes Sozialverhalten und beständige Leistung nun die wichtigsten und maßgebenden Faktoren für die nun eigenverantwortliche Entwicklung. Soziale Schichtzugehörigkeit, sozioökonomischer Status, Bildungsniveau, Gesundheit, familiäre Bedingungen und somit die Lebensqualität sind von diesen bestimmt. Eine stark ausgeprägte ADHS-Symptomatik verhindert eine Entfaltung dieser Bereiche, die dem Potential des Betroffenen angemessen wäre. Da die Symptomatik und der vorhandene Krankheitswert jedoch nur in den Auswirkungen sichtbar sind, wird die Verantwortung in der Inkompetenz und im geringen Potenzial des Betroffenen vermutet. Dies erzeugt bei Erwachsenen diskrepante Selbstkonzepte und verzweifelte Erklärungsnot, da sie sich der Tatsache bewusst sind, dass ihr Verhalten oftmals stark von ihren eigentlichen Verhaltensbestrebungen abweicht, nicht aber den möglichen Ursachen (eine behandlungsbedürftige, psychiatrische Störung). Wenig hilfreich für diese oft unangemessene Außensicht ist letztlich auch zunächst die ADHS-Diagnose, da die Diagnose aktuell einen wenig glaubwürdigen Ruf hat. Die Wahrnehmung außenstehender ist häufig dergestalt, als sei ADHS eine willkommene Entschuldigung für Eltern mit fehlender Erziehungskompetenz und eine ärztlich bescheinigte Ausrede für Erwachsene mit fehlender Disziplin, mangelnder Kompetenz oder schlechten Charaktereigenschaften. Solche aversiven Bewertungen der Gesellschaft können, neben dem zusätzlichen Leidensdruck, den sie erzeugen und fördern, auch die Erfolgswahrscheinlichkeit der Therapie, oder die Bereitschaft zur Therapieaufnahme vermindern.
Siehe auch den Artikel: ADHS in der Gesellschaft.
Identität
Gestörte Identitätsentwicklung
Frühe Entwicklungen von komorbiden Persönlichkeitsstörungen, insbesondere emotional-instabiler Persönlichkeitsstörungen, werden bei ADHS häufiger beobachtet, wobei beide Diagnosen deutliche Überschneidungen miteinander aufweisen[4] und die ausreichende diagnostische Abgrenzung von Borderline und ADHS schwierig ist. Oftmals können Kliniker nicht mit ausreichender Sicherheit abgrenzen, ob es sich um eine reine ADHS-Symptomatik oder eine reine Borderline-Persönlichkeitsstörung handelt, sodass eine kombinierte Störung als Verlegenheitsdiagnose gestellt wird.
Nicht nur ADHS, sondern insbesondere Persönlichkeitsstörungen im frühen Kinder- und Jugendalter implizieren früh einsetzende Störungen der Identitätsentwicklung. Das Risiko einer gestörten Selbstkonzeptentwicklung ist bei komorbiden Persönlichkeitsstörungen um ein Vielfaches erhöht. Eine gestörte Identitätsentwicklung ist ihrerseits als signifikanter Risikofaktor für die Entwicklung weiterer Erkrankungen auch später im Erwachsenenalter zu werten.
Letztlich ist vor allem bei ADHS-Betroffenen bereits früh ein vor allem kurzfristig meist gut funktionierendes, oftmals stimulusgebundenes, Chamäleon-artiges Anpassungsverhalten zu beobachten, das allerdings in keiner Beziehung zu dissoziativen Identitätsstörungen oder bipolaren Störungen steht.[5] Dieses kann als überlebenswichtiger Coping-Mechanismus verstanden werden: Einerseits haben die Betroffenen oftmals bereits aufgrund mangelnder Identitätsressourcen Schwierigkeiten, sich in sozialen Ausnahmesituationen kongruent und sozial unauffällig zu verhalten, andererseits ist bei ADHS die Handlungssteuerung und Emotionsregulation gestört. Diese enormen Anpassungsaufwände sind meist auf die soziale Annäherungsphase beschränkt, können jedoch durch positive Verstärkungen und entsprechende Rollenzuweisungen reaktiviert werden - ADHS-Betroffene gelten, ähnlich wie Menschen mit emotional instabilen oder dependenten Persönlichkeitsstörungen, aufgrund der oftmals mangelnden Identitätsressourcen und des mangelnden Selbstwertgefühls als besonders empfänglich für die Internalisierung von positiven Rollenbildern, jedoch auch als äußerst empfindlich gegenüber Stigmatisierungen (siehe auch: Selbsterfüllende Prophezeihungen).
Bemerkung: Kritisch zu sehen sind unter diesem Aspekt auch die oftmals im Internet angebotenen ADHS-Selbsttests, die unter Berücksichtigung der eher unspezifischen ADHS-Diagnosekriterien einen Hinweis auf eine mögliche ADHS beim Probanden liefern sollen. Es ist davon auszugehen, dass ein mangelndes Selbstwertgefühl eher dazu veranlasst, die beschriebenen ADHS-Symptome zur Selbstidentifikation zu gebrauchen (siehe: Selbstwertdienliche Verzerrungen).
ADHS als selbstwert- und identitätsstiftende Diagnose
Die Auswirkungen von chronischen Erkrankungen auf die Identitätsentwicklung von Erkrankten ist in der Literatur vielfach diskutiert worden. Insbesondere psychische Störungen wie ADHS, die mit störenden sozialen Auffälligkeiten einhergehen, haben meist durch immer wiederkehrende, stigmatisierende Rollenzuweisungen und soziale Abwertungen durch Dritte eine Verkümmerung des Selbstwertgefühls zur Folge. Gleichwohl kann auch die Diagnose ADHS an sich - ungeachtet dessen, ob ADHS tatsächlich vorliegt - aufgrund der negativen Assoziationen mit der Diagnose eine Stigmawirkung haben.[6] Auf die sehr häufige Selbstwertproblematik bei ADHS-Betroffenen wurde oben bereits eingegangen.
Mit der Diagnose ADHS werden, neben einer Vielzahl von negativen Attributionen, mittlerweile durchaus auch positive Affirmationen assoziiert. Beispielsweise finden sich vor allem in der jüngeren Ratgeberliteratur häufig Beobachtungen der Autoren, dass ADHS oft mit besonderen Fähighkeiten und Stärken einhergehe. Es werden Fähigkeiten wie eine besonders ausgeprägte Kreativität bis hin zu einzelnen Persönlichkeitsattributen („tierlieb", „authentisch", „verhandlungssicher", „empathisch") genannt. Dabei wird nicht selten explizit angegeben, dass ADHS als genetische Disposition die Entwicklung solcher Fähigkeiten begünstige. Für diese Hypothesen existieren jedoch keine, oder nur unzureichende wissenschaftliche Grundlagen. Unstrittig ist jedoch, ungeachtet der therapeutischen Fragwürdigkeit, dass solche Attributionen auch auf gesellschaftlicher Ebene erhebliche positive Auswirkungen auf das kollektive Selbstbewusstsein der Betroffenen haben können und manchmal auch in der Psychoedukation einen wichtigen Gegenpol zur stigmabehafteten ADHS-Diagnose darstellen. Therapeutisch sinnvoller ist es jedoch, die persönlichen Kompetenzen und Fähigkeiten des Betroffenen in einen Bezug zu seiner Persönlichkeit zu setzen und herauszustellen, anstatt diese als Korrelate einer psychischen Störung darzustellen.
Krankheitsverhalten
Da ADHS als unheilbare Störung gilt, welche bei den Betroffenen auch eng mit dem Begriff Krankheit assoziiert ist, liegt eine Identifikation mit einem chronischen Krankheitszustand nahe, der als überwältigend und nicht beherrschbar empfunden werden kann. Die Betroffenen erleben sich als hilflos, verlieren das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit ihrer Psyche und ihres Körpers und nehmen ein passives Schonverhalten an. Die Folge sind oftmals eine zunehmende Inanspruchnahme diagnostischer und therapeutischer Leistungen, wie zum Beispiel häufige Klinikaufenthalte, häufige Therapeutenwechsel und ein sich wiederholendes Ausprobieren unterschiedlicher Medikamente, an deren Wirksamkeit die Betroffenen unrealistische Erwartungen haben. Diese Entwicklung kann über eine zunehmende Abhängigkeit vom medizinischen Versorgungssystem bzw. Rehabilitationssystem bis zur Berentung führen, welche neben der passiven Wiederherstellung einer Bewältigungsmöglichkeit auch identitätsstiftende und entstigmatisierende Funktionen haben kann, nach denen sich der Betroffene sehnt.[7]
Überidentifikation mit ADHS und Implikationen für Betroffene
Ferner wird in der Literatur gelegentlich auch von Entwicklungen bestimmter Gruppierungen gesprochen, die um das Thema ADHS herum organisiert sind. Autoren wie Cordula Neuhaus sprechen gar von einer „ADHS-Szene".[8][9] Diese bisweilen auch als „subkulturell organisiert" erachtete Gruppierung zeichnet sich durch eine besonders intensive Auseinandersetzung mit der Erkrankung aus, die in der Regel durch einen besonders hohen Leidensdruck motiviert ist. Neben dem Leidensdruck spielt aber auch ein Interesse an gemeinschaftlicher Aktivität mit Gleichgesinnten eine Rolle. Es finden regelmäßige Treffen in lokalen Selbsthilfeverbänden statt, häufig wird in themenspezifischen Internetforen über das gesellschaftliche Konstrukt, neue Behandlungsmöglichkeiten oder persönliche Probleme diskutiert. Über das Internet sind die Betroffenen untereinander gut vernetzt, allgemein sind sie oft besser über das Störungsbild aufgeklärt, als Patienten mit anderen Erkrankungen. Sie bezeichnen sich selbstreferenziell als „ADHSler", aber auch als „Hypos“ (Hypoaktive) oder „Hypies“ (Hyperaktive).
Eine Auseinandersetzung mit den eigenen Störungsanteilen ist therapeutisch wichtig und stellt die Weichen für den psychotherapeutischen Behandlungserfolg. Allerdings kann durch die Fokussierung auf die Störung im Alltag einerseits eine Verstärkung der beobachtbaren Symptome ausgelöst und verhärtet werden[10], andererseits besteht das Risiko einer Identitätsentwicklung, die überwiegend auf den Attributionen einer psychischen Störung basiert. Folgerichtig werden eigene Persönlichkeitsanteile nicht mehr als solche wahrgenommen, und ADHS-Symptome (anstelle der Persönlichkeitsanteile) als ich-synton und im Sinne eines selbstwertdienlichen Reframings sogar als besondere Charaktermermkale attribuiert und bewusst in das eigene Charakterprofil integriert (z.B. das Phänomen „Klassenclown" im Kindes- und Jugendalter, oder „Alleinunterhalter" im Erwachsenenalter). Letztlich geht dem Betroffenen die Fähigkeit abhanden, zwischen Persönlichkeits- und Störungsanteilen bei sich und anderen zu unterscheiden.[11] Betroffene nehmen sich und das soziale Umfeld gegebenenfalls durch eine pathologische Brille wahr und können überzeugt sein, vermeintliche ADHS-Symptome bei Mitmenschen erkennen oder erfühlen zu können. Diese und vergleichbare Fehlattributionen korrelieren mit der bei ADHS häufig eingeschränkten metakognitiven Fähigkeit, zwischen der Realität (der Mitmenschen) und den eigenen Vorstellungen unterscheiden zu können. → Siehe auch: Allgegenwärtige ADHS.
Selbstwertdienliche Verzerrungen
Zu beobachten sind bisweilen ideologische Vorstellungen mit elitärem Anspruchscharakter, der über die Vorstellung und gegebenenfalls auch gemeinschaftlichen Kultivierung einer Normabweichung, einer Selbstwahrnehmung als besonders authentisch oder unangepasst, Verweise auf Genies der Zeitgeschichte (etwa Albert Einstein). aber auch über postulierte besondere Fähigkeiten von Betroffenen definiert werden soll. Dabei gehen die Betroffenen dieser Gruppierung (mitunter unter Berufung auf Hartmanns Hunter-/Farmer-Hypothese) davon aus, dass eine ADHS-Veranlagung eigentlich eine bessere Anpassung an die Natur ermöglicht, als anderen Menschen und dass Menschen mit ADHS nicht aufgrund einer Erkrankung, sondern aufgrund gesellschaftlicher Benachteiligung als suboptimal angepasste Minderleister existieren.
Ebenso wie negative Selbstkonzepte, ist auch eine idealisierte und verzerrte Selbstwahrnehmung für ADHS-Betroffene häufig beschrieben worden.[12] Diese hat gegebenenfalls eine Coping-Funktion. Der Zusammenhang von Selbstkonzeptstörungen, sozialer Ausgrenzung und ADHS kann über die beschriebenen Phänomene idealisierende Wahrnehmung, (elitäres) Abgrenzungsbedürfnis, Stabilisierung über die Außenwelt, selbstwertdienliche Verzerrungen und Größenfantasien deutlich werden. Auch ist ein Zusammenhang mit oder eine Benachbarung zu Zügen der narzisstischen Persönlichkeitsstörung beschrieben, die manchmal komorbid vorliegt.[13][14] Diese Entwicklungen sind nachvollziehbar, wenn Betroffene leistungsmäßig stets unterhalb ihres eigentlichen Potentials bleiben, mit dem Wissen, dass ohne die Symptomatik wahrscheinlich deutlich bessere Leistungen möglich wären - gleichwohl aber ohne die Möglichkeit, diese jemals realistisch einschätzen zu können.
Selbstbezogenheit und narzisstische Züge
Narzisstische Züge sind bei ADHS-Patienten häufiger
Für ADHS-Betroffene ist ausprägungsabhängig häufig eine deutlichere Selbstbezogenheit mit narzisstischen Zügen beschrieben.[15] Den Betroffenen fällt es schwer, die Ansichten anderer nachzuvollziehen, fremde oder anderslautende Auffassungen zu akzeptieren oder Bedürfnisse anderer anzuerkennen, wenn diese nicht oder nicht akut den eigenen entsprechen. Die Denkweise von Betroffenen kann diffus und eigenwillig erscheinen. Entsprechend fühlen sich Betroffene häufig unverstanden oder ungerecht behandelt, missverstehen die Äußerungen oder Absichten anderer und haben eher eine negative oder pessimistische Erwartungshaltung, die sich in argwöhnischem, verdächtigendem oder jähzornigem Verhalten ausdrücken kann. Dies kann verbunden sein mit einer unrealistischen Selbsterwartung bei gleichzeitiger Abwertung der Leistungen anderer, während die eigenen Leistungen mangelhaft sind. Dies schränkt die Anpassungs- und Lernfähigkeiten der Betroffenen nicht nur auf kognitiver, sondern auch auf emotionaler Ebene weiter ein, da wohlgemeinte Hinweise, Deutungen oder Rückmeldungen anderer regelmäßig als herabsetzende Belehrungen attribuiert werden. Diese wehren die Betroffenen ab, sofern sie nicht mit besonderer Sensibilität artikuliert werden, durch welche sie den eigenen Selbstwert nicht bedroht sehen. Eine solche Sensibilität wird aber außerhalb eines professionellen therapeutischen Settings – also im tatsächlichen Lebensalltag der Betroffenen – nur selten umgesetzt werden.
Maligner Narzissmus ist bei reiner ADHS selten
Während die oben beschriebene Erscheinungsform narzisstischer Züge für gemäßigt bis schwer Betroffene ADHS-Patienten häufig beschrieben ist, sind Formen des malignen Narzissmus (narzisstische Persönlichkeitsstörung mit bedeutenden Anteilen antisozialen Verhaltens) bei reiner ADHS nur selten anzutreffen. Dies kann an der häufig ausgeprägten Empathiefähigkeit und unter günstigen Umständen erkennbaren Reflexionsbereitschaft der Betroffenen deutlich werden.
„Für viele, gerade auch prominente ADHSler stellt sich das Leben häufig wie ein Wettkampf oder eine Bühne dar. Solange sie Erfolge und Anerkennung haben, scheint auch die Stimmung blendend, nach aussen geradezu 'euphorisch' zu sein. Im Inneren erleben sie sich aber als traurig bzw. erschöpft. Diese Menschen wirken dann ständig auf der Suche nach Reizen, weil sie die äußere Stimulation brauchen, um eine emotionale Anregung zu haben. Dies wiederum wird häufig mit Narzissmus glechgesetzt, was aber unzutreffend ist“.[16]
Einschränkungen und Kritik
Die in diesem Artikel erläuterten Beschreibungen zur potentiellen Selbstbild- und Selbstwertproblematik sind nicht spezifisch für ADHS. Bei einem Großteil der beschriebenen Verhaltens- und Reaktionsmuster handelt es sich um Störungen, die bei einem gesunden menschlichen Organismus ohne ADHS-Disposition äquivalent zu erwarten sind – vorausgesetzt, der Organismus arbeitet über längere Zeiträume an seinen Lastgrenzen. Aufgrund dieser Ubiquität – viele Menschen sind geneigt, sich in vergleichbaren Schilderungen wiederzufinden – ist die diagnostische Wertigkeit solcher Anekdoten gering. Bei inadäquater Gewichtung besteht ein nicht zu unterschätzendes Risiko systematischer Verzerrungen, die etwa Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen nach sich ziehen können. Bevor also Rückschlüsse auf ein ursächliches Mitwirken einer ADHS an der vorhandenen Selbstbild- und Selbstwertproblematik gezogen werden dürfen, muss zunächst die Ausschlussdiagnose ADHS positiv lauten. Vice versa würde das Spektrum der infrage kommenden Primärstörungen sehr breit streuen, da nahezu alle psychischen Störungsbilder die Entwicklung einer Selbstbild- oder Selbstwertproblematik kausal verantworten.
Stellungnahmen und Zitate
- Aus einer qualitativen Studie von Hansson et al. (2005) mit 21 erwachsenen Patienten:[17]„Die befragten Patienten erlebten ihre Diagnose ambivalent: Einerseits lassen sich unter Betrachtung der Diagnose bestimmte Lebensereignisse und -Verläufe erklären, die zuvor nicht fassbar gewesen waren. Der Wert der Diagnose wurde aber auch in Frage gestellt, da die Patienten fürchteten, durch die Diagnose eine gewisse Abwertung (Herabstufung der eigenen Identität) zu erleben“.
Siehe auch
Siehe auch
Film und Fernsehen
Studien und wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
- Lachenmeier, H. (2014): Selbstwahrnehmung von Erwachsenen mit ADHS (PDF, 255 KB)
- Positive Fantasien und Selbstüberschätzung bei ADHS-Kindern (PDF)
- Selbst- und Fremdwahrnehmung von Beeinträchtigung exekutiver Funktionen bei Erwachsenen mit ADHS (PDF)
Englisch
- Hansson Halleröd, S. L., Anckarsäter, et al. (2015): Experienced consequences of being diagnosed with ADHD as an adult – a qualitative study. BMC Psychiatry (PDF, 472 KB)
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Einzelnachweise
- ↑ http://www.sanp.ch/docs/sanp/2014/02/en/sanp-00230.pdf
- ↑ vgl. http://www.sanp.ch/docs/sanp/2014/02/en/sanp-00230.pdf
- ↑ http://www.adhs.ch/adhs-selbstwertgefuehl-dissoziation-und-identitaet/
- ↑ http://www.adhs-deutschland.de/Home/Begleitstoerungen/Die-Begleiterkrankungen-bei-ADHS.aspx
- ↑ http://www.dissoc.de/issd13.html
- ↑ http://www.nytimes.com/2013/12/15/health/the-selling-of-attention-deficit-disorder.html?pagewanted=all
- ↑ https://www.tk.de/centaurus/servlet/contentblob/575522/Datei/2869/TK-Internet-Therapie-Praesentation-Prof-Dr-Schneider.pdf
- ↑ https://books.google.de/books?id=WRfxXmUS_d4C&pg=PA74&lpg=PA74&source=bl&ots=jGJP46v3Q1&sig=rQEzq2ZgvGyHeVkf75Gadrwbulw&hl=de&sa=X&ei=0oqUVezKOcq5sQHcv47wAg&ved=0CD4Q6AEwBg#v=onepage&q=%22adhs-szene%22&f=false
- ↑ https://books.google.de/books?id=RNuc0pukrEAC&pg=PA21&lpg=PA21&source=bl&ots=8ZVmbiJ4S3&sig=LS2yyoCyfboBoNKcP29GpsFR7Ow&hl=de&sa=X&ei=RouUVeDiDYuYsgHWqKO4Cw&ved=0CCAQ6AEwADgK#v=onepage&q=%22adhs-szene%22&f=false
- ↑ http://www.sanp.ch/docs/sanp/2014/02/en/sanp-00230.pdf
- ↑ http://www.adhd-institute.com/expert-scientific-insight/scientific-insight/scientific-insight-archive-2014/adhd-diagnosis-has-implications-for-identity-development,-reports-a-small-qualitative-study-of-adolescents-with-adhd-in-denmark/
- ↑ https://books.google.de/books?id=i6viCAAAQBAJ&pg=PA17&lpg=PA17#v=onepage&q&f=false
- ↑ http://www.psychosoziale-gesundheit.net/pdf/faust1_narzissmus.pdf
- ↑ http://www.drjoachim-selle.com/datei/Krankheit%20und%20ADHS.pdf
- ↑ Lauth, G.: ADHS bei Erwachsenen, S. 14-15
- ↑ https://web4health.info/de/answers/adhd-adhd-depression.htm
- ↑ http://lup.lub.lu.se/search/ws/files/8182042/8227771