Mehr Sicherheit für ADHS-Patienten
Medikamenten-Ausweis nach § 4 Abs. 3 BtMG
Dieser Artikel setzt sich mit der Genetik, hier insbesondere mit der Molekulargenetik der ADHS auseinander.
Für die Ätiopathogenese der ADHS wird ein genetisches Entstehungsmodell zu Grunde gelegt. Eine bedeutsame genetische Beteiligung an der Entstehung von ADHS wird vornehmlich durch Familien- sowie Zwillings- und Adoptionsstudien verteidigt,[1][2] allerdings legen auch angesichts der bisherigen molekulargenetischen Untersuchungen Hinweise darauf, dass Zusammenhänge zwischen der ADHS-Symptomatik, den bisherigen neurobiologischen Befunden und bestimmten Genen bestehen können. Aktuell wird angenommen, dass unabhängig davon, ob ADHS als abgegrenzte Störungskategorie oder in ihren drei Kerndimensionen gefasst wird, etwa 20 %[3] bzw. 60-90 % der endophänotypischen Varianz auf genetische Faktoren zurückgeführt werden können. Gesicherte Erkenntnisse, die auch kausale Aussagen über genaue genetische Zusammenhänge treffen lassen, liegen momentan jedoch noch nicht vor.
Zur Bestimmung genetischer Faktoren eines Phänotyps (zum Beispiel ADHS-Symptomen oder neurophysiologischen Variationen, die in bildgebenden Untersuchungen sichtbar werden) werden sogenannte genomweite Assoziationsstudien (GWAS) durchgeführt, bei denen korrelative Zusammenhänge zwischen dem Allel und dem Phänotyp bestimmt werden können. Je nach Anforderungen kommen dabei unterschiedliche Methoden zum Einsatz. Für ADHS liegen einschlägige neurobiologische Befunde vor, weshalb überwiegend hypothesengeleitet untersucht wird. Dies bedeutet in der Praxis beispielsweise, dass eine Untersuchung an einem spezifischen Gen stattfindet, das für ein Protein codiert, von dem bekannt ist, dass es mit höherer Wahrscheinlichkeit an ADHS beteiligt sein könnte. Bei hypothesengeleiteten Untersuchungen werden Varianten von einem oder mehreren Kandidatengenen entweder im Fall-Kontroll-Design,[4] oder bei Geschwisterpaaren (sog. „Affected Sib Pairs“) oder Eltern und Kind (sog. „Trios“) mittels TDT (Transmission-Disequilibrium-Test)[5] durchgeführt. TDT beinhaltet die Erhebung der Weitergabe von Allelen heterozygoter und gesunder Eltern an ihre Kinder, bei Geschwisterpaaren werden jeweils die von beiden Geschwistern gemeinsam ererbten Allele bestimmt.[6] Bei beiden Verfahren kann man Auskunft darüber erhalten, ob ein Genotyp, ein Haplotyp oder ein Allel eines zuvor für den Versuch bestimmten Gens einen Teil der durch dieses Gen beeinflussten Varianz des Phänotyps erklärt.
Erste hypothesengeleitete Untersuchungen wurden in den 1990er Jahren durchgeführt, um charakteristische DNA-Polymorphismen aufzudecken. Dabei wurde sich gezielt auf Gene konzentriert, die dopaminerg codieren, da man aufgrund einschlägiger neurobiologischer Befunde und der Wirksamkeit von Methylphenidat bei ADHS von einem dopaminergen Zusammenhang ausgegangen war.[7] Dabei wurden vor allem die Kandidatengene Dopamin-D4-Rezeptor (DRD4-Gen) auf Chromosom 11p15.5 sowie das Dopamintransporter-Gen (SLC6A3/DAT1-Gen) auf Chromosom 5p15.3 untersucht. Auch aktuell handelt es sich bei SLC6A3 und DRD4 um die beiden Gene, die in Bezug auf potentielle ADHS-Assoziationen am intensivsten erforscht sind. In diesen wurden Varianten entdeckt, die möglicherweise an dem postulierten Dopamin-Reuptake beteiligt sein könnten, da etwa der präfrontale Cortex Rezeptoren und Liganden aufweist, für welche diese Gene codieren.[8]
Mittlerweile wurden einige hundert GWAS für ADHS durchgeführt, darunter auch hypothesenfreie. Dabei zeigten sich auch mögliche Assoziationen zwischen ADHS und Genen, die für zahlreiche andere Rezeptoren und Proteine codieren, darunter zum Beispiel das DDC-Gen (DOPA-Decarboxylase), das SNAP-25-Gen (Synaptosomal-Associated-Protein) und das COMT-Gen (Catechol-O-Methyltransferase) bzw. Genen, die auch mit häufigen Komorbiditäten assoziiert sind. Diese polygene Konstellation könnte erklären, weshalb es Methylphenidat-Non-Responder gibt und weshalb manche Patienten besser auf eine medikamentöse Kombinationsbehandlung ansprechen.
Die bisherigen Ergebnisse genetischer Assoziationsstudien können auf (korrelative) Beziehungen zwischen genetischen Abweichungen und ADHS schließen lassen. Aufgrund geringer Fallzahlen verfügen die einzelnen Untersuchungen jedoch sehr häufig nicht über eine hinreichende statistische Power, mit der Konsequenz falsch-positiver und falsch-negativer Ergebnisse. Deutlich wird dies an inkonsistenten Studienergebnissen, wie in der untenstehenden Tabelle ersichtlich ist. Genauere Erkenntnisse werden erst nach langer Zeit durch Meta-Analysen möglich.
Konkrete Aussagen über kausale Zusammenhänge zwischen bestimmten Genen oder Allelen und einem bestimmten Endophänotyp (wie etwa dem postulierten Dopamindefizit) lassen sich momentan noch nicht mit Sicherheit treffen. Die bisherigen Befunde liefern aber Hinweise, dass es Assoziationen zwischen bestimmten Allelen mehrerer Gene und ADHS sowie bestimmten anderen Störungen (welche häufig Komorbiditäten sind) geben könnte,[9] sodass ein polygenes Erklärungsmodell vorgeschlagen wird, bei dem mehrere gestörte Gene zusammenwirken.[10]
Zur Gewinnung genauerer Erkenntnisse wird momentan von verschiedenen Konsortien (erfolgreich) versucht, ausreichend große Stichproben (>1000 Patienten) zu rekrutieren. Mit Hilfe neuer Technologien (zum Beispiel Next Generation Sequencing)[11] können dann in kurzer Zeit große Mengen an genetischen Markern untersucht werden.
Im Folgenden sind die aktuell (Stand: Dezember 2018)[12] bedeutsamsten Gene aufgeführt, für die im Rahmen von Assoziationsstudien Variationen identifiziert wurden, die gemeinsam mit (überwiegend nach DSM-IV diagnostizierter) ADHS auftreten. Bisherige Studien zu diesen und weiteren Genen werden seit 2011 von einer Arbeitsgruppe des Bioinformatics Team[13] an der Pekinger UCAS unter der Leitung von Zhang als Metadatensätze veröffentlicht.[14] Die Aktualität bezieht sich also stets auf Zhang et al. Kommentare bezüglich der jeweils postulierten Beziehungen zu ADHS beziehen sich überwiegend auf Krause und Krause.[15]
HUGO-Symbol | Name/Alias | Genlocus | Anzahl SNPs | Anzahl Studien | davon signifikant | davon nicht signifikant | Hypothetische Beziehung zu ADHS |
---|---|---|---|---|---|---|---|
SLC6A3 | Dopamintransporter (DAT) | 5p15.3 | 80 | 70[16] | 43 | 26 | Produktion eines abnorm effizienten DAT; Dichteerniedrigung des DAT[17] |
DRD4 | Dopaminrezeptor-D4 | 11p15.5 | 8 | 67[18] | 49 | 18 | Produktion eines subsensitiven Dopaminrezeptors;[19] postsynaptischer Funktionsverlust |
COMT | Catechol-O-Methyltransferase | 22q11.21 | 34 | 29[20] | 7 | 22 | Beeinträchtigung des enzymatischen Abbaus von Dopamin und Noradrenalin[21] |
SLC6A4 | Serotonintransporter | 17q11.2 | 28 | 26[22] | 13 | 13 | Störung der Serotoninsynthese[23] |
DRD5 | Dopaminrezeptor-D5 | 4p16.1 | 1 | 22[24] | 14 | 6 | Beziehung zum kombinierten und unaufmerksamen Subtyp |
DBH | Dopamin-β-Hydroxylase | 9q34 | 45 | 21[25] | 12 | 9 | Beeinträchtigung des Katecholaminstoffwechsels[26] |
MAO-A | Monoaminooxidase | Xp11.4-p11.3 | 55 | 20[27] | 13 | 7 | X-chromosomale Übertragung verhindert Kompensation von Allel durch zweites Gen beim männlichen Geschlecht → Überwiegen des männlichen Geschlechts bei ADHS?[28] |
SNAP25 | Synaptosomal-Associated-Protein | 20p12-p11.2 | 117 | 18[29] | 13 | 5 | |
SLC6A2 | Noradrenalintransporter | 16q12.2 | 113 | 16[30] | 10 | 5 | Erhöhte Vulnerabilität bei pränatalem Tabakkonsum; Beziehung zum hyperaktiv-impulsiven Subtyp[31] |
BDNF | Neurotrophin | 11p14.1 | 30 | 16[32] | 8 | 8 | |
HTR1B | Serotoninrezeptor-1B | 6q13 | 18 | 14[33] | 5 | 9 | Serotonerge Beteiligung[34] |
HTR2A | Serotoninrezeptor-2A | 13q14-q21 | 65 | 13[35] | 7 | 6 | Serotonerge Beteiligung[36] |
DRD2 | Dopaminrezeptor-D2 | 11q22-q23 | 47 | 10[37] | 3 | 7 | Korrelation zwischen Durchblutungssteigerung im Gehirn und DRD2-Rezeptorendichte bei Gabe von Methylphenidat[38] |
TPH-2 | Tryptophanhydroxylase | 12q15 | 152 | 10[39] | 7 | 3 | |
ADRA2A | α-2-Adrenozeptor | 10q24-q26 | 2 | 7[40] | 2 | 4 | Zusammenhang zwischen G/G-Genotyp und Non-Response auf Methylphenidat hinsichtlich Aufmerksamkeitsstörung;[41] Noradrenerge Beteiligung.[42] |
DDC | DOPA-Decarboxylase | 7p11 | 98 | 6[43] | 5 | 1 | Störung der Synthese von Dopamin, Noradrenalin und Serotonin[44] |
MAO-B | Monoaminooxidase-B | Xp11.4-p11.3 | 43 | 6[45] | 2 | 4 | |
TPH-1 | Tryptophanhydroxylase-1 | 11p15.3-p14 | 27 | 6[46] | 2 | 4 | |
HTR2C | Serotoninrezeptor-2C | Xq24 | 208 | 5[47] | 2 | 3 | |
DRD1 | Dopaminrezeptor-D1 | 5q34-q35 | 17 | 8[48] | 5 | 3 | Beziehungen zu den Symptomen der Unaufmerksamkeit sowie Abhängigkeitsverhalten[49] |
DRD3 | Dopaminrezeptor-D3 | 3q13.3 | 40 | 8[50] | 1 | 7 | Beziehungen zu Hyperaktivität[51] |
CHRNA4 | Nikotinischer Acetylcholinrezeptor | 20 | 8 | 7[52] | 4 | 3 | |
TH | Tyrosinhydroxylase | 11p15.5 | 6 | 7[53] | 2 | 5 |
Für die Entstehung von ADHS besteht die Grundannahme, dass ein direkter kausaler Konnex zwischen dem vorliegenden Genotyp und der Ausprägung der Störung herstellbar ist. Dass bei psychiatrischen Störungen generell, so auch bei ADHS, jedoch wahrscheinlich auch von einer Interaktion zwischen genetischen und Umweltfaktoren ausgegangen werden kann, konnten neben Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien[54][55] mittlerweile auch molekulargenetische Untersuchungen aufzeigen.
So konnten Thapar et al. für ADHS-Patienten mit einem funktionellen COMT-Polymorphismus (COMT-Val158Met) einen modulierenden Effekt auf die Entwicklung antisozialen Verhaltens bei einem niedrigen Geburtsgewicht ermitteln.[56] Eine Replikationsstudie von Caspi et al. konnte diese Befunde bestätigen.[57]
Andere Untersuchungen konnten weitere potentielle GxE aufzeigen, zum Beispiel von Kahn[58], Brookes[59] und Neuman[60] für Polymorphismen auf dem SLC6A3-Gen und pränatalem Alkohol- und Tabakkonsum, sowie Laucht[61] für ungünstige psychosoziale Bedingungen und Polymorphismen auf demselben Gen. Sánchez-Mora et al. beschrieben GxE in Bezug auf DRD4-7R und Stresserfahrungen als Risikofaktor für die Erwachsenenalter persistierende ADHS.[62]
Für DRD4-Polymorphismen fand Bakermans-Kranenburg potentielle GxE für mangelnde mütterliche Zuwendung[63], Propper für fehlende väterliche Zuwendung.[64]
Einschränkend muss jedoch gesagt werden, dass solche pathogenetischen Modelle stark simplifiziert sind.[65] So werden in den Arbeiten beispielsweise weder mögliche Gen-Umwelt-Korrelationen (rGE), noch mögliche Gen-Gen-Interaktionen zwischen dem Kandidatengen und anderen genetischen Markern berücksichtigt. Darüber hinaus handelt es sich meist vor allem durch eine Aufteilung zu multiplen Subgruppen um niedrige Fallzahlen.
Abschließend muss gesagt werden, dass die überzeugende Befundlage für genetische Risikofaktoren Umweltfaktoren als ätiologische Quelle nicht ausschließen. Die Tatsache, dass die Erblichkeit in Zwillingsstudien unter 100 % liegt, zeigt recht deutlich, dass Umweltfaktoren einbezogen werden müssen. Die Heredität von ADHS erscheint hoch, und diese Einschätzung schließt Gen-Umwelt-Interaktionen mit ein. Es ist möglich, dass derartige Wechselwirkungen einen Großteil der Ätiologie von ADHS ausmachen. Umweltrisikofaktoren wirken wahrscheinlich über epigenetische Mechanismen, die in Zusammenhang ADHS bislang kaum untersucht worden sind.[66] Die Bedeutung der Umwelt zeigt sich auch darin, dass – wie bei anderen komplexen genetischen Erkrankungen – ein Großteil der Erblichkeit von ADHS durch SNPs in regulatorischen Regionen erklärt wird, und nicht durch kodierende Regionen.[67]
Die Gen-Umwelt-Korrelation beschreibt den Einfluss der genetischen Komponente auf die Gestaltung der Umwelt. Wenn beispielsweise ein Allel, das mit dem Persönlichkeitsmerkmal „Impulsivität“ assoziiert ist, hohe Werte für Impulsivität erzielt, wird der Betroffene leicht in Konflikte in Beziehungen geraten und somit vermehrt negative Ereignisse erfahren. Bei ADHS-Betroffenen kann nach diesem Paradigma von einer hochgradigen Gen-Umwelt-Korrelation ausgegangen werden → siehe auch: ADHS-Teufelskreis.
Das Krankheitsrisiko muss nicht unabänderlich von genetischen und traumatischen Kindheitsfaktoren abhängen und bestimmt sein. So haben zum Beispiel Kaufman et al. zeigen können, dass ein unterstützend erlebtes soziales Umfeld selbst bei Patienten mit einer ungünstigen Gen-Umwelt-Konstellation eine deutliche Risikoreduktion im Bezug auf depressive Störungen bewirken kann.[68]
Darüber hinaus wird aktuell auch untersucht, inwiefern die Aktivität von Genen im Sinne der Epigenetik veränderbar ist und welche Bedeutung dies für ADHS haben kann.[69]
Die bisherigen Ergebnisse molekulargenetischer Untersuchungen sind noch nicht zahlreich und sind, wie bei dieser Art von Untersuchung momentan üblich, divergierend. Aktuell lassen sich noch keine gesicherten Aussagen über einen Zusammenhang zwischen genetischen und neurobiologischen Befunden treffen.[70] Nur etwa 5 % der genetischen Verhaltensvarianz ließe sich durch die bisherigen Befunde erklären und oftmals finden sich entsprechende Abweichungen auch in der Kontrollgruppe, sodass Belege für eine ADHS-Spezifität noch ausstehend sind. Die Arbeiten momentan intensiv rekrutierender Forschungskonsortien werden in Zukunft genauere Zusammenhänge sichern oder ausschließen können.
Auch mit einer sich verdichtenden Datenlage zu genetischen Bedingungen der ADHS darf weiterhin hinterfragt werden, wo genau ein Cut-Off definiert werden soll, ab dem ein Verhalten nicht mehr als normal gilt, bzw. ab dem ein Mensch infolge einer psychiatrischen Diagnose als „psychisch gestört“ gilt, und damit letztlich auch eine Ettikettierung erfährt. Die Normalverteilung des Ausmaßes der ADHS-Verhaltensvarianz (ADHS-Symptome sind kategorial in der gesamten Bevölkerung vorhanden) macht eine solche dimensionale Abgrenzung letztlich erforderlich. So kann zum Beispiel ein Kind noch als „sehr lebhaft“ eingestuft werden, während ein anderes Kind mit vergleichbarem Phänotyp eine ADHS-Diagnose erhält.[71] Gleichwohl können auch bereits das verwenedete Diagnosemanual[72] oder die kulturell bedingte Verhaltenstoleranz entscheidend dafür sein, ob die Diagnose ADHS gestellt wird. Gemäß dieses Paradigmas würde zum Beispiel einem Kind, das in Deutschland aufwächst, wahrscheinlicher eine positive ADHS-Diagnose gestellt, als demselben Kind, wenn es in Italien untersucht wird, obwohl bei dem Kind ein entsprechender Genotyp vorhanden ist - das heißt, obwohl das Kind nach genetischen Befunden ADHS hätte.
Bezugnehmend auf diese Problematik postuliert der US-amerikanische Journalist und Autor Thom Hartmann das Paradigma, dass es sich bei ADHS nicht um eine psychische Störung oder Krankheit handelt, sondern um eine genetische Normvariante. Dem stünden jedoch eine deutlich höhere genetische Komorbidität und Vulnerabilität für Erkrankungen gegenüber.